Die ganz großen Sachen zu H. C. Artmanns 100. Geburtstag sind ausgeblieben. Die Jubiläums-Ausstellung der Stadt Wien ist winzig, das Erscheinungsdatum der neuen Biografie ist auf 7. Februar 2023 verschoben. Nun gut, jedes Jahr ist Artmann-Jahr, wenn man es dazu erklärt (was geradezu artmannesk wäre). Doch ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Umso erfreulicher ist auf den ersten Blick die Doppel-CD des ORF: "H. C. Artmann pur & vertont".

H. C. Artmann, Kurt Schwertsik, HK Gruber u.a. pur & vertont (ORF) - © Mayer Marius - OMC-Shop
H. C. Artmann, Kurt Schwertsik, HK Gruber u.a. pur & vertont (ORF) - © Mayer Marius - OMC-Shop

Auf den ersten Blick, wie gesagt.

Makellos die erste CD: Artmann liest 34 Gedichte aus "med ana schwoazzn dintn" - und das sagenhaft gut: Genau differenziert er die Dialektebenen, wechselt zwischen breitem Wienerisch und einem zwischen den Zähnen zerquetschen Kunstdialekt.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.
"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.

Artmanns Spiel mit poetischen Masken mittelalterlicher, barocker, persischer, japanischer, surrealistischer, balladesker, gälischer, dadaistischer und wer weiß welcher Dichtung noch, hat zahlreiche Komponisten zu Vertonungen verlockt. Die bekannteste ist HK Gubers "Frankenstein!!" für Chansonnier und Orchester, den Gruber nur allzu oft selbst als Chansonnier interpretiert hat.

Im Versuch, sich von der von Arnold Schönbergs Zwölftontechnik dominierten Nachkriegs-Avantgarde zu lösen, begaben sich Gruber, Kurt Schwertsik und Otto M. Zykan mit absichtlicher Bereitwilligkeit in Artmanns Einflusssphäre in der Absicht, seine Maskenspiele mit musikalischen Mitteln nachzuvollziehen und dadurch den von Theodor W. Adorno verordneten ästhetischen Auflagen zu entkommen. Kurz: Artmann-Gedichte und Zwölftontechnik vertragen sich nicht.

So ergab sich eine stilistische Verwandtschaft, also: Artmann-Text als Basis, und die Musik gestaltet sich als ein Sammelsurium gebrochener Stilzitate, bisweilen garniert mit verbeultem Chansontonfall. Womit wir bei der zweiten CD sind, die einerseits erfreulich ist, weil sie das karge Aufnahmen-Angebot an neuer Musik aus Österreich erweitert, andererseits aber auch ein wenig ratlos zurücklässt.

Den grelldunklen Klang von Grubers "Zeitstimmung" kennt man ebenso aus seinem "Frankenstein!!" wie die bis zur Unverständlichkeit verrenkte Deklamation. Nur glaubt man der "Zeitstimmung" nicht, dass der bizarre Tonfall gerade frisch erfunden ist. Der Überraschungseffekt des "Frankenstein!!" weicht dem "Nocheinmal", das auch in der Erfindung deutlich blasser geraten ist. Schwertsiks Zyklus "da uhu schaud me so draurech au . . ." besteht aus gebrochenen Wienerliedern und einem verbeulten Schlager, wirkt aber etwas zu gewollt simpel, um zu überzeugen. Das gilt auch für Zykans Kasperlgedicht, das nicht recht vom Fleck kommt.

Schwertsiks "shâl-i-mâr" hingegen nimmt sehr für sich ein, weil das Einfache unter deutlichen Anführungszeichen steht - Gustav Mahlers absichtsvolle Kontrast-Banalitäten kommen ebenso ins Gedächtnis wie sein bitterer Trauertonfall. Und es ist ein Genuss, hier den Vortrag eines Sängers (Georg Nigl) zu hören statt Grubers gekünsteltem Krähen.

Obwohl die drei Komponisten mehr ästhetisch als stilistisch verwandt sind, ist die Auswahl schwer nachvollziehbar. Gottfried von Einems Artmann-Zyklus "Rosa mystica" etwa fehlt weit schmerzlicher als Schwertsiks "uhu" und Zykan willkommen sind. Dennoch: Ein Muss ist diese Doppel-CD auf jeden Fall - für Artmann-Liebhaber sowieso und obendrein für alle, die sich für die Neue Musik Österreichs interessieren.