Die 83-CD-plus-4-BluRays-Box mit allen Einspielungen, die Pierre Boulez für die DGG und Decca gemacht hat, ist das Dokument eines eigentümlich eingeschränkten Repertoires - nicht nur, weil Boulez ausschließlich Musik dirigierte, der er Relevanz in der Entwicklung der Musikgeschichte zubilligte, sondern auch, weil die DGG-Aufnahmen zu einem großen Teil für ein anderes Label wiederholen, was Boulez Jahre zuvor auf CBS (jetzt Sony) und teilweise auch auf Erato vorgelegt hat.
Mit den Jahren hat sich Boulez von einem gnadenlosen Musik-Anatomen zu einem Dirigenten entwickelt, der auch sinnliche Schönheit über die Bloßlegung der Strukturen hinaus erzielen will. Er ist gewissermaßen freundlicher geworden - oft zum Vorteil für die Werke, mitunter aber auch zum Nachteil. Dann nämlich, wenn die Neueinspielung die frühere Schärfe abschleift und dadurch zu einer wohl genauen, interpretatorisch aber relativ beliebigen Einspielung wird. Dass Boulez in keinem einzigen Fall ein hohes Niveau der Klangkultur unterschreitet, versteht sich von selbst. Und damit sei über die inferiore Aufnahme von Béla Bartóks "Herzog Blaubarts Burg" gleich der Mantel des Schweigens gebreitet - andererseits bleibt Boulez' Einspielung bei CBS die beste, die man von diesem Werk bekommen kann.
Nun zu den CDs der DGG-Box.
CDs 1-8: Béla Bartók
Insgesamt sehr genau gelesen, mit äußerster Klarheit wiedergegeben. Boulez war zwar nie so kalt, wie man ihm nachgesagt hat, aber sein musikalisches denken war gewiss mehr struktur- als emotionsbetont. So versteht es sich von selbst, dass die "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta", das "Divertimento" und das dritte Klavierkonzert seine Sache weniger sind. "Der wunderbare Mandarin" und "Der holzgeschnitzte Prinz" aber und die "Vier Orchesterstücke" wird man in vergleichbarer Qualität vergeblich suchen.
CDs 9-12: Alban Berg
Speziell die auf deren Uraufführung basierende von Friedrich Cerha komplettierte "Lulu" ist unvergleichlich an klanglicher Schönheit. Das Kammerkonzert gibt es auch in einer zweiten Aufnahme (CD 46): In beiden Fällen balanciert Boulez die Bläser unsagbar delikat aus und erzielt auf der Basis der strukturellen Klarheit einen ganz und gar gebrochen romantischen Schönklang.
CDs 13-15: Hector Berlioz.
Bei "Roméo et Juliette" bleibt Boulez die Sinnlichkeit schuldig. Die "Symphonie fantastique" ist ein höchst seltsamer Bericht über ein Werk. Trockener geht es kaum. Interessant, aber nicht befriedigend.
CDs 16-17 und 60: Harrison Birtwistle.
Es tut gut, in den beiden riesig instrumentierten Orchesterwerken "Earth Dances" und "The Triumph of Time" thematische und melodische Entwicklungen verfolgen zu können. Boulez' kühle Analytik kommt dieser Musik sehr entgegen.
CDs 18-22: Pierre Boulez
Wie als Dirigent, so ist Boulez auch als Komponist milder geworden. Was in den Erstfassungen seiner Werke oft unbegreiflich harsch geklungen hat, entwickelt sich in den späteren Versionen zu farbintensiven Klangerlebnissen. "Pli selon Pli" etwa, und "sur Incises" ist sogar in höchstem Maße effektvoll.
CD 23: Anton Bruckner
Spät, offenbar unter dem Einfluss seines Freundes und Kollegen Daniel Barenboim, hat Boulez die Werke Bruckners entdeckt. Leider ist es nur noch zur Aufnahme der Achten Sinfonie gekommen, die hervorragend ist: Entschlackt, aber klangsinnlich, getragen von energiegeladenem rhythmischen Puls, und das viel zu lange Adagio machen klare Konturen und vernünftiger Fluss erträglich.
CD 24-25, 47-50: Claude Debussy, Maurice Ravel
Beide Komponisten gehörten zum Kernrepertoire von Boulez, und man wird tatsächlich kaum bessere Aufnahmen finden. Debussys "Nocturnes" und "Jeux" sind Referenzeispielungen, "La mer" ist sogar noch besser als Boulez' CBS-Aufnahme, weil er nun auch die Höhepunkte auskostet. Bei Ravels "Daphnis et Chloé" wird man vielleicht die kantigere frühere Aufnahme dem funkelnden Klangexzess der späteren vorziehen. "Ma mère l'oye" ist überwältigend: Wenn eine Aufnahme fähig ist, im Zuhörer ein Glücksgefühl zu erzeugen, dann diese.
CD 26-27: György Ligeti
Das ist bei der DGG neues Repertoire für Boulez. Seltsam, dass er als Klangmagier ausgerechnet um die klangmagischen Stücke "Atmosphères" und "Lontano" einen Bogen gemacht hat. Wie erwartet: Kühle, präzise Aufführungen der drei Konzerte (Violine, Cello, Klavier) und der "Aventures", gerade so, wie es Ligetis kühler, präziser Musik ansteht.
CD 28: Franz Liszt
Boulez hat sich wiederholt für einige Werke Liszts begeistert, aber diese Einspielungen der beiden Klavierkonzerte sind weitestgehend nebensächlich, was auch an Daniel Barenboims farblosem Vortrag des Klavierparts liegen mag.
CD 29-43: Gustav Mahler
Boulez hat für CBS das Adagio der Zehnten Sinfonie aufgenommen, gekoppelt war das Schallplatten-Doppelalbum mit der ersten Gesamtaufnahme der frühen Kantate "Das klagende Lied". Beide Einspielungen waren Ohrenöffner für die Werke und zeigten zugleich die Grenzen des damals im Handwerklichen des Dirigierens noch etwas unerfahrenen Boulez. Für die DGG nahm Boulez sukzessive Mahlers Gesamtwerk auf. Mahlers expressionistische Glut und Boulez' kühles Denken in Strukturen zeitigten dabei erstaunliche, teilweise überragende Ergebnisse. Natürlich ist es kühn, die Sechste Sinfonie als nihilistisches Manifest zu dirigieren und Siebente Sinfonie gleichsam zu skelettieren, aber es ist eine spannende Gegenposition zu den immer überhitzteren und verschwitzteren Mahler-Aufnahmen in der Bernstein-Nachfolge. Und es gibt Überraschungen: Die Erste und die Vierte Sinfonie und auch die Wunderhorn-Lieder kostet Boulez in allen Facetten ihrer Romantik, mit aller echten und aller gespielten Naivität aus. Dass ihn die Chinoiserien des "Lied von der Erde" und die Monumentalität der Achten Sinfonie weniger interessieren, versteht sich von selbst. Aber zu welch einem stoischen Abschied wird die Neunte Sinfonie, zu welch einem kühnen Aufbruch zu neuen Ufern das Adagio der Zehnten Sinfonie! Ungleichmäßig mag das alles sein - aber es ist der wichtigste und durchdachteste Mahler-Zyklus seit Bernstein und Michael Gielen.
CD 44-45: Olivier Messiaen
Boulez hat die dezidiert religiös inspirierten Werke seines Kompositionslehrers fast alle ebenso vermieden wie die sinnliche "Turangalila", die als Beschwörung indischer Sexualmystik für ihn "Bordellmusik" war. Je abstrakter Messiaen komponierte, desto mehr interessierte sich Boulez für ihn. Und die Einspielungen der Tondauernstudie "Chronochromie", dem monumentalen Bläserwerk "Et exspecto resurrectionem mortuorum" und den feingliedrigen "Sept Haikai" sind dementsprechend maßstabsetzend. Eigenartig ist nur, dass "Et exspecto" die einzige Neuaufnahme ist, in der sich das Verhältnis von schrofferen frühen und opulenteren späten Aufnahmen umkehrt: Die DGG-Einspielung ist mit ihren Bläser- und Metallschlagzeug-Attacken wesentlich schärfer konturiert als die frühere Erato-Einspielung, in der Boulez Messiaens Bläserakkorde gleichsam als Resonanzen der Schlagzeuge auffasst und so weich und sanft spielen lässt, dass die tatsächliche Schärfe der Klänge kaum ins Gewicht fällt. Und das bizarre Vogelstimmenkonzert "Le Réveil des oiseaux" in der DGG-Einspielung ist eine reine Freude: hell, grell, bizarr und unsagbar virtuos.
CD 46, 55, 56, 63: Wolfgang Amadeus Mozart, Alexander Scriabin, Richard Strauss, Karol Szymanowski
In keinem dieser Fälle tragen Boulez korrekte Buchstabierungen etwas bei. Es scheint, als habe er plötzlich Interesse entwickelt und es wieder verloren, ehe er die Einspielungen machte.
CD 51-54: Arnold Schönberg
Bei CBS legte Boulez das Gesamtwerk Schoenbergs vor. Bei der DGG scheint er sich auf die Werke zu konzentrieren, die er für die zentralen hält. Oder konnte er bei der DGG nicht alles durchsetzen, was er gerne aufgenommen hätte? Dass "Erwartung", "Die glückliche Hand" und die "Fünf Orchesterstücke" fehlen, befremdet jeden, der weiß, wie Boulez über diese Stücke dachte. Was man indessen bekommt, ist "Moses und Aron" (in der früheren CBS-Aufnahme, trotz einiger Unschärfen, weit aufregender und gesanglich überlegen), "Pelleas und Melisande" mit angenehmer Entschlackung der hyperromantischen Exzesse, und die besten Interpretationen der "Ode an Napoleon" und des Klavierkonzerts, die sich denken lassen.
CD 57-62: Igor Strawinski
Bei keinem anderen Komponisten pendelt Boulez dermaßen zwischen bestmöglichen Einspielungen und schierem Desinteresse. Alle Werke der russischen und der kurzen expressionistischen Periode Strawinskis sind unübertrefflich (nur das "Sacre du printemps" ist in Boulez' früherer CBS-Einspielung noch kompromissloser, noch eisiger). Ein Juwel sonder gleichen ist das kurze, riesig besetzte Chorwerk "Swesdoliki", das wie ein vorzeitliches Ritual anmutet. Bei den neoklassizistischen Werken hingegen absolviert Boulez nur ein Pensum kursorischen Interesses. Charakteristisch etwa die "Psalmensinfonie": Das Finale des letzten Satzes ist überwältigend, für den Rest scheint sich der Dirigent nicht erwärmt zu haben. Und kurios: Ausgerechnet die späten zwölftönig organisierten Werke Strawinskis meidet Boulez. Störte ihn (wie bei Messiaen) die religiöse Thematik dermaßen, dass mit der Musik nichts anfangen konnte?
CD 64: Edgar Varèse
Naturgemäß ist Boulez ein berufener Interpret der rhythmischen und klanglichen Exzesse dieses Komponisten, gerade weil Boulez in "Ameriques", "Arcana", "Déserts" und "Ionisation" die Konturen schärft und die Übersteigerungen zu gezielten und erreichten Höhepunkten kanalisiert. In den früheren CBS-Aufnahmen war das noch etwas aufregender, jetzt kommt dafür eine unglaublich leuchtende Klanglichkeit dazu.
CD 65-79: Richard Wagner
In "Der Ring des Nibelungen" und "Parsifal" zeigte Boulez seinen völlig neuen Zugang: Wagner klingt bei ihm leicht und durchsichtig, er entwickelt die Aufführungen ganz aus dem Orchester und gewinnt aus den vielfältigen motivischen Verzahnungen und Verwandlungen eine ungeheure Dramatik auf rein musikalischer Ebene. Dass der "Ring des Nibelungen" teilweise untauglich gesungen wird (Gwyneth Jones als Brünnhilde und Manfred Jung als Siegfried), tut dem Gesamtbild keinen Abbruch. Auch ohne die Inszenierung von Patrice Chéreau ist diese Interpretation auf rein musikalischer Ebene ein "Jahrhundert-Ring". Ebenso aufregend der "Parsifal", wenn Boulez die frühimpressionistischen Elemente betont und Tempi wählt, die den Singstimmen ein pathosfreien Sprechgesang ermöglichen.
CD 80-82: Anton von Webern
Boulez hat bei CBS das Gesamtwerk Weberns herausgebracht und dabei auch die Lieder und die Kammermusik künstlerisch begleitet. Nun beschränkt er sich auf die größer besetzten Werke: Wieder ist es ein Zugewinn an Farben und Klangsinnlichkeit, der den Verlust an Frische, an Entdeckerfreude gewissermaßen, durchaus kompensiert.
CD 83: Gespräche mit Pierre Boulez
BluRay 1-4: Wagner. "Der Ring des Nibelungen"
Dass die 4 BluRays den "Ring des Nibelungen" szenisch enthalten, also mit der Inszenierung Patrice Chéreaus, lässt freilich die Frage aufkommen, weshalb das hier möglich war, die DGG aber nicht auch die DVDs bzw. BlueRays anderer Boulez-Aufnahmen beigelegt hat, etwa von Debussys "Pelléas et Mélisande" oder von Leo Janáčeks "Aus einem Totenhaus". Der komplette DGG-Boulez ist also nur ein beinahe kompletter DGG-Boulez, und viele der Aufnahmen hat es längst in thematisch geordneten Boxen gegeben. Man wird also in der eigenen Sammlung verdoppeln und verdreifachen. Aber der Repertoirewert der Box ist, speziell, wenn man eine Sammlung aufbaut oder auch wegweisende Komponisten des 20. Jahrhunderts noch nicht besitzt, enorm.