Die Wiener Philharmoniker sind ein außergewöhnliches Orchester. Der Klangkörper formierte sich erstmals 1842 unter dem Komponisten und Dirigenten Otto Nicolai.
Bis zum heutigen Tag kommen die Philharmoniker ohne Chefdirigenten aus. Das Ergebnis ist, dass der Klang des Orchesters, statt von einer Führungspersönlichkeit nach deren Vorstellungen geprägt zu werden, sich von seinen Musikern aus entwickelt und, da zahlreiche Musiker der Philharmoniker als Lehrkräfte ihr Können und Wissen vermitteln, immer die Tradition des Orchesters fortsetzt. Zu ihr gehört der vibratoreiche plastische Streicherklang, Blechbläser mit etwas dunkleren Klarinetten und Trompeten, aber verhältnismäßig hellen Hörnern und Posaunen, zu denen die Pauken einen sehr deutlichen Bass schlagen.
Man hat immer wieder behauptet, die spezielle Klangkultur der Wiener Philharmoniker käme einer besonderen streicherlastigen Richtung der Romantik zugute, die Philharmoniker seien ein "Brahms-Orchester". Doch längst beweisen sie auch bei Werken des 20. Jahrhunderts nach Gustav Mahler, wie gut dieser Klang selbst aus dem Rhythmus entwickelte Werke wie Igor Strawinskis "Sacre du printemps" oder Werke des französischen Klangstils wie Claude Debussys "La mer" oder Olivier Messieans "Eclairs sur l'Au-delà" trägt.
Die nun erschienene De-luxe-Box mit 20 CDs wirft daher eine grundlegende Frage auf: Wieso zeigt sie das Orchester in diesem Umfang als (formidablen) Begleitapparat, statt die Zuhörer mit seiner Klangschönheit und in den letzten Jahrzehnten immer mehr gewachsenen Virtuosität zu überwältigen? Soll der Verkauf nicht nur über den Namen des Orchesters und den der Dirigenten stattfinden, sondern meint man seitens DGG und Decca, man müsse auch Solisten als Kaufanreiz bieten?
Die CDs im einzelnen
CD 1: Mozarts "Prager" und "Linzer" Sinfonien mit Riccardo Muti - Mozart, Wiener Philharmoniker und Riccardo Muti sind immer eine unschlagbare Kombination, wenn es darum geht, diese Musik auf traditionelle Weise, ohne den Unfug der "originalen Aufführungspraxis" zu musizieren.
CD 2: Beethovens erstes Klavierkonzert, im Solopart von Alfred Brendel mit all seinen Manierismen, am Pult von Simon Rattle mit vielen Überflüssigkeiten ausgestattet. Aber Beethovens Siebente Sinfonie, von Rafael Kubelik am Pult energetisiert, ist ein Gewinn.
CD 3: Schuberts "Fierrabras"-Ouvertüre und seine zweite Sinfonie unter István Kertész, kraftvoll vorangetrieben, mitunter geradezu hitzig, überzeugt trotz orchestraler Unebenheiten mehr als die kleinteilige "Unvollendete" unter Georg Solti.
CD 4: Schumanns "Genoveva"-Ouvertüre unter Karl Münchinger bleibt unauffällig, die zweite Sinfonie wie "Ouvertüre, Scherzo und Finale" unter Solti sind überzeugende Plädoyers für den Komponisten.
CD 5: Brahms' "Tragische Ouvertüre"(Karl Böhm), "Alt-Rhapsodie" (Anne Sofie von Otter, James Levine) und Erster Sinfonie (Herbert von Karajan) - das Orchester in seinem Element. Diese "Erste" unter Karajan ist atemberaubend!
CD 6: Bruckners "Neunte" unter Leonard Bernstein ist eine kuriose Wahl. Wohl willkommen, da es eine tiefschürfende, ungewöhnliche, auf ihre Weise auch überwältigende Interpretation über das Werk hinaus ist, insgesamt aber mehr Bernstein als Wiener Philharmoniker, die dem Dirigenten hier auf seinem Sonderweg bereitwillig folgen.
CD 7: Dvoráks Klavierkonzert, ausgekostet von András Schiff, am Pult klug strukturiert Christoph von Dohnányi, überzeugt ebenso wie die vor Energie vibrierende "Neue Welt"-Sinfonie unter István Kertész: quasi die Muss-CD der Zusammenstellung.
CD 8: Tschaikowskis "Fünfte" unter Josef Krips ist ein Kuriosum: Gut, diese kraftvolle und unsentimentale Interpretation zu hören, aber man hätte Krips lieber als den legendären Mozart-Interpreten der Nachkriegszeit erlebt. Sibelius' "Siebente" unter Lorin Maazel erinnert daran, dass dieser Dirigent mit diesem Orchester den bisher wohl besten Sibelius-Zyklus aller Zeiten vorlegte. Die komplexe und bei schwächeren Dirigenten oft undankbar wirkende "Siebente" wird hier zu einem atemberaubenden Ereignis: Urgewalten in Klang übersetzt.
CD 9: Wozu das? Wagners "Wesendonck-Lieder" mit
Kirsten Flagstad und dem lustlos wirkenden Hans Knappertsbusch am Pult sind so unerheblich wie Mahlers "Lieder eines fahrenden Gesellen" mit Thomas Quasthoff unter Pierre Boulez. Richard Strauss' "Vier letzte Lieder" mit der unvergleichlichen Lisa Della Casa unter Karl Böhm erfreuen immerhin.
CD 10: Zweite Wiener Schule in bemerkenswerten Aufnahmen: Schönbergs "A Survivor from Warsaw" mit Gottfried Hornik und der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor unter Claudio Abbado ist berührend, Bergs "Lulu-Suite" mit Anja Silja unter Christoph von Dohnányi schlicht ein perfektes und spannendes Klangwunder. Claudio Abbado musiziert Weberns "Passacaglia" und seine "Fünf Orchesterstücke" mit leuchtendem Klang und expressivem Gestus.
CD 11: Neue Musik ist immer willkommen - aber welch kuriose Auswahl ist das! Wolfgang Rihms routinierte "Départ" braucht niemand, Iván Eröd hat weit bessere Werke komponiert als das blasse "Triple Concerto" (aber die haben die Philharmoniker entweder nicht gespielt oder nicht aufgenommen), und René Staars wenigstens klangschönes "Time Recycling" dürfte eine Freundschaftstat für den Musikerkollegen gewesen sein. György Ligetis "Atmosphères" und sein "Lontano" hingegen sind mit ihren Klangverschmelzungen und verfließenden Konturen genuine Philharmoniker-Musik. Schöner kann man das nicht spielen!
CD 12: Damit beginnen die Seltsamkeiten dieser Box. Wobei man bei den atemberaubenden Aufführungen von Mozarts Klavierkonzerten Nr. 23 und 27 mit Clifford Curzon unter George Szell immerhin noch verstehen kann, dass man sie dabeihaben wollte.
CD 13: Schumanns Klavierkonzert und Brahms' Zweites Klavierkonzert mit dem tastendonnernden Wilhelm Backhaus, dieses unter Karl Böhm, jenes unter Günter Wand, nimmt sich hingegen in einer Orchester-Parade überflüssig aus.
CD 14: Webers "Konzertstück" mit Friedrich Gulda unter Volkmar Andreae ist eine hübsche Kuriosität, während Lorin Maazel Richard Strauss' "Der Bürger als Edelmann"-Suite detailfreudig ausspielt. Aber Hand aufs Herz: Braucht man das wirklich in einer Box, die sicher als Best-of eines Orchesters gedacht ist?
CD 15: Brahms' Erstes Klavierkonzert mit Maurizio Pollini unter Karl Böhm wäre in einer Pollini-Box angebracht. Böhm lässt das Orchester schön begleiten, aber es gibt eine gewisse Diskrepanz zwischen dem intellektuell strukturierten Zugriff Pollinis und der Schwere, die Böhm vermittelt. Im ersten Satz schlägt der Gegensatz Funken, danach befremdet er.
CD 16: Die Violinkonzerte von Mendelssohn-Bartholdy und Brahms mit Nathan Milstein unter Abbado (Mendelssohn) und Eugen Jochum (Brahms) zeigen, was man längst weiß: Die Wiener Philharmoniker können auch Diener der Solisten sein. Stoff für eine Milstein-Box wäre es, in einer Wiener-Philharmoniker-Box nimmt sich diese CD fehl am Platz aus.
CD 17: Abermals Überflüssiges in einer Box, die einem Orchester gewidmet ist: Gidon Kremer spielt Violinkonzerte von Paganini und Philip Glass, was ihm gelingt, dem Orchester aber pure Statistenfunktion zuweist, entweder wegen der im einen Fall unerheblichen oder, im anderen Fall, repetitiv formelhaften Begleitung.
CD 18: So seltsam geht es weiter: Stargeigerin Anne-Sophie Mutter mit einer kleinen Personale in der Wiener-Philharmoniker-Box? Nichts gegen Mutter - aber das Violinkonzert von Tschaikowski, die "Carmen-Fantasie" von Sarasate und "Tzigane" von Ravel stellen abermals die Frage, wie solche Kompilationen zustandekommen. Keine schlechten Interpretationen freilich, doch Mutter hat Wesentlicheres vorgelegt - und das Orchester erst recht.
CD 19: Immerhin: Schumanns Cellokonzert und Brahms' Doppelkonzert mit Gidon Kremer (Violine) und Mischa Maisky (Cello) sind nicht völlig deplatziert, weil die Philharmoniker unter Leonard Bernstein in beiden Fällen durchaus bemerkenswert hervortreten dürfen. Ein leichtes Kopfschütteln bleibt dennoch.
CD 20: Und es verstärkt sich bei Ravels G-Dur-Konzert mit Bernstein, über das man besser den Mantel des Schweigens breitet; nichts Besseres lässt sich über de Fallas "Noches en los jardines de España" mit Daniel Barenboim verkünden, und André Previns "Diversions" stellen vor allem die Frage, ob sie von den Wiener Philharmonikern auch aufgeführt worden wären, wäre der Komponist kein gerne engagierter Stardirigent gewesen.
Seltsame Lücken
Fazit: 11, oder sagen wir getrost: 12 CDs zeigen mit mehr oder weniger gutem Gelingen, wie einem absolut außerordentlichen Orchester Aufführungen mehr oder weniger gut gelingen. Doch 8 CDs, und damit mehr als ein Drittel des Inhalts, sind Material, das man auf Englisch "Trifles" nennt: Jede dieser CDs wäre geeignet, als Bonus-CD einer Philharmoniker-Box beizuliegen. Aber als wesentlicher Teil einer solchen sind sie eine kuriose Wahl angesichts dessen, dass philharmonisches Kernrepertoire wie Mahler und Wagner extrem unterrepräsentiert ist, dass man liebend gerne das bedeutungslose Glass-Violinkonzert gegen Dohnanyis sensationelle Einspielung von Strawinskis "Feuervogel" eingetauscht hätte, dass die Box auf philharmonischen Haydn und Bartók verzichtet und statt dessen Konzerte von Paganini und Sarasate serviert, schließlich, dass die philharmonischen Ausflüge in die Gegenwartsmusik mit Previn und schwachem Eröd dokumentiert werden statt mit Messiaen, Henze und (wenn schon Starkes von Eröd nicht vorhanden sein sollte) Gottfried von Einem.
Wenigstens dies: Die Box ist als "Volume I" ausgewiesen. Ein "Volume II" könnte die Lücken auffüllen und damit sinnstiftend für die hier vorgelegte Box wirken. Vielleicht werden dann auch Dirigenten wie Carlo Maria Giulini, Zubin Mehta (etwa mit Franz Schmidts "Vierter Sinfonie") und Horst Stein gewürdigt. Die Hoffnung lebt.