Federboa, Absinth und dazu ein enthemmter Charleston: Die "wilden 20er Jahre" sind als Partymotto zurückgekehrt, und das im auffälligen Stil. Seit die Uhren das aktuelle Jahrzehnt eingeläutet haben, tanzt der große Gatsby mit der feschen Lola auf diversen Retro-Abenden, bis die Lackschuhe rauchen. Ein hedonistischer Akt der Weltflucht? Ja, aber warum eigentlich nicht: In einer Welt, die sich vor allem um eine Pandemie und die Gräuel eines europäischen Krieges dreht, tut ein Quantum Seelentrost Not.
Das neue Album des Notos Quartett wäre durchaus ein Tipp für solche Partys, obwohl es weder patinierte Schlager noch antiken Jazz serviert. Die vier Musiker an Klavier, Geige, Bratsche und Cello haben Klassik-Werke aus dem Paris der wilden 20er Jahre (dort "les années folles" genannt) ausgegraben. Und diese Funstücke sprühen, trotz ihrer artifiziellen Form, vor einem Überschwang, wie ihn einst in Berlin die Comedian Harmonists verkörpert haben.

Etwa ein Divertissement des pfiffigen Vielschreibers Jean Françaix: Die 20 Minuten tänzeln mit einem neoklassizistischen Tonfall und flockigen Rhythmen dahin und tändelt das Ohr mit schelmischen Trugschlüssen. Der Zeitgenosse Alexandre Tansman stößt mit seiner "Suite-Divertissement" ins gleiche vergnügliche Horn. Stimmt zwar, hie und da driftet seine Musik ein wenig in die atonalen Gewässer der Moderne ab, hin und wieder weht ein Hauch von Béla Bartók’schem Grusel durchs Klangbild. Aber dann rudert der gebürtige Pole gleich umso entschlossener in seinen tonalen Vergnügungspark zurück.

Nun kitzeln diese Petitessen die Gehörgänge, bis das Zwerchfell lacht, bringen aber in der Seelentiefe keine Saite zum Schwingen. Da ist das Klavierquartett des Ungarn László Lajtha op. 6 (1927) ein anderes Kaliber, nämlich ein Meisterwerk reinsten Wassers und liegt hier als weltweite Ersteinspielung vor. Lajtha nützt die Polyphonie eines Johann Sebastian Bach für filigrane Klangbilder, die wie Sternenstaub schillern, kombiniert das Schwelgertum eines César Franck mit der herben Chromatik Bartóks zu Gesängen, die trotz ihrer Schrägheit ein hymnisches Charisma verströmen, er klingt insgesamt wie keiner der Erwähnten und gestaltet seine subtile, an der Tonalitätskante angesiedelte, unvorhersehbare Musik wie aus einem Guss. Gebe es noch Kritikerpäpste, sie müssten dieses Stück, vom Notos Quartett hinreißend eingespielt, sofort in den heiligen Stand eines Repertoirewerks erheben.

Dass die Dirigentin Simone Menezes ihren eigenen Weg geht, beweist schon der Namen ihres Ensembles. Im Gegensatz zu den Kombos mit den langen Wortwürsten firmiert ihre Formation schlicht unter dem Buchstaben K. Umso größer sind die Verbindungslinien, die die Brasilianerin auf dem Album zu ziehen versucht. Unter dem titelgebenden Motto "Metanoia" (Umkehr, Buße) ertönt ein aparter Ausschnitt aus Puccinis "Messa di Gloria" (mit dem Chor Sequenza 9.3) ebenso wie ein Teilstück aus Bachs Erster Partita für Solo-Violine (Manon Galy); süffige Klänge von Heitor Villa-Lobos treffen auf die spirituelle Schlichtheit von Arvo Pärt ("In spe"): ein kurzweiliges Album mit starken Kontrasten.