Arrigo Boito ist eine der interessantesten Gestalten zumindest der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts - und das, obwohl der 1842 Geborene nur zwei Opern und sonst praktisch nichts Anderes komponiert hat und nur mit einer von ihnen, dem "Mefistofele", wenigstens an der Peripherie des Repertoires existiert.

Seine zweite Oper, "Nerone", war bei den Bregenzer Festspielen 2021 als Produktion im Festspielhaus zu sehen. Diese Produktion liegt nun auf DVD und BluRay vor und schließt eine bittere Lücke, nachdem die hervorragende Hungaroton-Einspielung unter Eve Queler gestrichen und der Mitschnitt einer Aufführung unter Gianandrea Gavazzeni bei Bongiovanni aufnahmetechnisch höchst unbefriedigend ist.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.
Boito war eine Doppelbegabung als Komponist sowie als Essayist und Lyriker; eine besondere Begabung besaß er für Opernlibretti. Doch es wäre zu kurz gegriffen, ihn auf die Text-Überarbeitungen und Libretti für Giuseppe Verdi ("Simon Boccanegra", "Otello" und "Falstaff"), Amilcare Ponchielli ("La Gioconda") und Franco Faccio ("Amleto") zu reduzieren. Boito war auch der große Anreger der italienischen Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er hatte die Vision eines Musikdramas, das Richard Wagners Ideen mit denen der italienischen Gesangsoper verbindet: Eine Oper sollte es sein, wohl intelligent und auf der Grundlage von dichterisch hochstehenden Texten, aber ohne teutonische Schwere, Singstimmen und Orchester verzahnt, doch ohne sinfonische Wucherungen, mehr bühnenwirksam als weihevoll.
Neue Ideale
Boito selbst komponierte den "Mefistofele" nach Goethes "Faust" sozusagen als Modelloper. Er erwies sich dabei in seinem brillanten eigenen Libretto als geschickter Dramatiker und in der Musik als Klangmagier mit kühnen Vorstellungen - nur fehlte ihm die ursprüngliche melodische Begabung. Seine Ideale freilich machten Schule, sie beeinflussten sogar Verdi, der, trotz seines Alters, geistig rege geblieben war und genau verstand, worauf Boito hinaus wollte. Und so mag es zynisch klingen, dennoch: Boitos beste Oper ist Verdis "Otello".
Boito selbst begann spätestens 1875 die Arbeit an "Nerone". Bis 1915 rang er mit dem Werk. Vier der fünf Akte stellte er weitestgehend fertig. Sein Verleger Giulio Ricordi wollte ihn überzeugen, dass es des fünften Aktes mit Neros Wahnsinn nicht bedürfe. Doch Boito kämpfte weiter, willigte in eine vieraktige Version ein, nur um sie sofort wieder zurückzuziehen. 1918 starb er, ohne den vierten Akt völlig fertiggestellt zu haben. 1924 dirigierte Arturo Toscanini die Uraufführung des "Nerone" in der vieraktigen Version, die Toscanini in Zusammenarbeit mit den Komponisten Antonio Smareglia und Vittorio Tommasini erstellt hatte.
Stiefkind der Bühnen
Dem "Nerone" haftet freilich der Ruf des Fragments an. Boito selbst wollte den Ersten Akt noch überarbeiten. Gewiss spiegelt die vorhandene Partitur keinen letzten Willen. Dennoch ist das Werk ungeheuer stark. Dass es dennoch ein derartiges Stiefkind der Bühnen geblieben ist, hängt mit der Handlung und auch mit der ungewöhnlichen Musik zusammen.
Die Handlung ist im Kern scheinbar einfach: Sie dreht sich um den Gegensatz von Neros heidnischem Glauben und dem gnostischen Christentum. Boitos Libretto knüpft allerdings ein dichtes, für das unmittelbare Verständnis vielleicht allzu dichtes Netz an realen und symbolischen Beziehungen der Personen, indem es gnostische Lehren, speziell die Dualismus-Lehre, auszudrücken versucht. Vieles bleibt mit voller Absicht vage. Doch gerade dieser Reiz des Angedeuteten ist auch unwiderstehlich. Die handfeste, spannende Handlung mit einem quasi-philosophischen Unterbau gehört zu den raffiniertesten Texten, die das Musiktheater besitzt.
Beispielhafte Aufführung
Der Musik, von Dirk Kaftan am Pult der Wiener Symphoniker klar strukturiert und in Bewegung gehalten, fehlen, und das mag Boitos Absicht sein, die großen Nummern, nicht aber die intensiven Deklamationen und dramatischen Steigerungen. Das mag der Verbreitung dieser Oper im Weg stehen. Unwillkürlich erwartet man von einem italienischen Komponisten dieser Generation ins Ohr gehende Solonummern und schlagkräftige Ensembles. Nicht, dass Boito das gänzlich verweigert. Rubrias Todesszene etwa ist ein Glanzstück der italienischen Oper aller Zeiten. Doch es ist eine ungewöhnliche Italianità, eine, die sich ganz auf das Wort bezieht, die Zwischentöne ausleuchtet. Damit steht dieser "Nerone" am Beginn des italienischen Operwegs, der um den geschmacksverirrten Verismo einen Bogen schlägt und geradewegs zu Ottorino Respighi, Ildebrando Pizzetti und Gian Francesco Malipiero führt, also zu Komponisten, die ihre italienische Tradtition mit mit neoklassizistischen Elementen anreichern und ihre Stoffe gerne in der Zeit von Antike und Renaissance ansiedeln.
Die DVD hat eine Jugendfreigabe ab 12 Jahren - und das ist richtig so, denn Olivier Tambosi macht ungeheuer starkes Musiktheater, indem er die Sex-and-Crime-Handlung in all ihrer Exzessivität zeigt. Dass er dabei an der Oberfläche des Werks bleibt, mindert die Spannung nicht. Rafael Rojas (Nerone), Lucio Gallo (Simon Mago), Svetlana Aksenova (Asteria), Alessandra Volpe (Rubria) und alle anderen singen und agieren im Dienst einer Produktion, die im Gesamteindruck den Atem raubt.