Manche werden da sicher gleich lästern: "So viel Zeit wie die hätt ich auch gern." Aber die vergessen dabei, dass das natürlich keine Freizeit ist, sondern Arbeitszeit. Und dass Martina Kresta einen Zwölf-Stunden-Tag hat.
Seit über 20 Jahren hält sie ihr strenges Konzept nun schon durch. Ihre buchhalterisch penibel datierten "Aufzeichnungen von bis". Auf den ersten Blick unspektakuläre Zeichnungen, die immer "nur" aus einer einzigen feinen Linie bestehen, mit unglaublicher Präzision freihändig gezogen, eine eng von außen nach innen verlaufende Spirale wie die Spur, der die Nadel eines Plattenspielers folgt. Doch während in der Rille einer Schallplatte vielleicht Beethovens Neunte Platz hat, enthält so eine Tuschelinie mehrere Tage, im Extremfall ein ganzes Jahr. In der kompletten Ausstellung stecken sogar 882 Tage drin. Plus ein paar "Aufwärmrunden". Das IST also überhaupt keine abstrakte Kunst, das ist ein ziemlich realistisches Abbild der . . . Zeit. Und wie ein gewisser Richard Flynman einmal gesagt hat (wobei ich ja glaube, dass das ein Druckfehler ist und der Spruch in dieser Sammlung von Zitaten in Wahrheit vom Physiknobelpreisträger Richard Feynman stammt): "Zeit ist das, was passiert, wenn SONST nichts passiert."
Auf den Blättern in der Artmark Galerie tut sich jedenfalls tatsächlich nicht viel mehr, als dass das, was passiert, wenn SONST nichts passiert, vergeht. Klingt jetzt nicht sonderlich aufregend, mehr nach einer Zwangshandlung oder womöglich nach Zeitverschwendung, hat freilich geradezu etwas Mythisches. Mit fast epischer Ausführlichkeit wird da von der Vergänglichkeit erzählt. Von der Vanitas. Besonders weil in der aktuellen Serie (der mittlerweile 42. der "Aufzeichnungen") die Länge der "Zeitspur" bestimmt wird vom Durchhaltevermögen nicht der Künstlerin (die hat schließlich jede MENGE davon), sondern der jeweiligen Tuschefeder. Und wie im Zentrum der Musik Stille herrscht (na ja, jede LP – oder CD – hat in der Mitte ein Loch, oder?), kreist hier die Zeit, die mühsamste Handarbeit ist, quasi die ewige Ruhe ein, die letzte Leere, der sie sich allmählich nähert. Und während sie das macht, erzeugen zufällige Fingertapper und Wischspuren eine geheimnisvolle Aura und laden das Papier mit "Ausdruck" auf.
. . . und eine altbackene Semmel
In Röntgenbilder ritzt Martina Kresta diese Erinnerungen an die eigene Endlichkeit ebenfalls ein (passenderweise in gängigen Schallplattenformaten). Oder legt 250 unwiederbringliche Tage endgültig in einem Ordner ab, bevor sie diesen in unerreichbarer Höhe (okay, irgendwo gibts eine Leiter) und gut getarnt als Bürorequisit in einem sonst leeren Regal abstellt. Dass Ordner und Regal Teil der Ausstellung sind, fällt allerdings vermutlich lediglich dem auf, der mit der Preisliste in der Hand durch die Räume marschiert. Moment, da steht: "1 altbackene Semmel." Ach ja, die gehört auch noch dazu. Galerist Johannes Haller: "Eigentlich sollte sie in einer Schublade liegen, aber ich HAB keine Schublade." Drum versteckt er das Gebäck, das seine beste Zeit längst hinter sich hat, weil es gerade einmal so lange frisch bleibt wie eine Eintagsfliege, halt einfach – irgendwo. Zwischen Zettelzeugs und Büchern.
Die Künstlerin schafft es, mit einer einzigen Linie, mit viel Geduld sowie bemerkens- und beneidenswerter Konsequenz existenzielle Fragen zu stellen oder: darzustellen. Woher wir kommen und wohin wir gehen? Nein, eher wie lange wir bleiben. Trocken ist trotzdem bloß die Semmel. (Und die Tusche ist selbstverständlich ebenso nimmer feucht.)