Man muss zwar irgendwo beginnen, aber am Ende HAT er keinen Anfang: der Kreis. Für die zwölfte Ausgabe der Reihe "SOLO", in der aufstrebende Künstler und –innen vorgestellt werden, hat sich das Team der Fotogalerie Wien nämlich Anja Nowak ausgesucht, die mit allerlei Gerät die Fährte des Kreises aufgenommen hat. Der sachlich nüchterne Ausstellungstitel "Bleistift auf Papier auf Holz", der nicht mehr verrät als die Technik (oder eine der Technik-en – Plural –, derer sich die in Wien lebende Deutsche bedient), lässt freilich nicht vermuten, dass es hier ordentlich "rundgeht". (Moment: Holz? Der Tisch!)
Von Giotto erzählt man sich ja gern die Anekdote, er habe dereinst einen Malwettbewerb bravourös gewonnen, allein indem er vor den Talentscouts des Papstes als Probe seiner Kunst einen makellosen Kreis gezogen hätte. Mit freier Hand, wohlgemerkt. Der Auftraggeber hat das trotzdem nicht als Götz-Zitat interpretiert (no na, der Ritter "mit der eisernen Hand" war zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal geboren, geschweige denn Goethe), sondern als Beweis für das Können dieses Renaissancemeisters (und eben nicht dafür, dass dessen Kunst von "ihr könnt mich einmal" kommt). Als Albrecht Dürer 200 Jahre später davon gehört hat, vom leider nicht erhaltenen Kreis des Kollegen, soll er kurzerhand ein Stück Kohle aus dem Kamin gefischt und selber einen exakten Kreis an die Wand gezeichnet haben und nachher noch eins draufgesetzt haben, einen Punkt in die Mitte gemacht haben. (Angeber!) Damit die, die die Vollkommenheit seiner Rundung hätten überprüfen wollen, wüssten, wo sie die Zirkelspitze hineinstecken sollten.
Die perfekte Form einkreisen
Mit Giotto und Dürer will Nowak (Jahrgang 1984), die Soziologie und Kunst studiert hat, allerdings eh nicht konkurrieren oder die beiden gar ausstechen. (Wer macht den runderen?) Und EIN Kreis ist ihr sowieso nie genug. Das Runde muss unentwegt ins Eckige (oder AUFS Eckige, aufs Blatt). In HD-Videos kann man sie ausgiebig dabei beobachten, wie sie fast besessen mit Blei- oder Kohlestift die ideale Form einkreist, minutenlang, sich dieser durch ausdauerndes und konsequentes Zirkulieren freihändig anzunähern versucht (behutsam und zögerlich, dann plötzlich rasend schnell, als wolle der Stift die Linie überholen, die er grad zeichnet, und wieder entspannter, meditativer) und permanent scheitern muss.Nicht auf das Endprodukt kommt es an (sonst würden doch die ZEICHNUNGEN an den Wänden hängen), vielmehr wird da das Verhältnis zwischen Annäherung und Abweichung, Kreis und Kreisen empirisch erforscht. Und wann ist er fertig, der Kreis, wann kann sie ihn nummerieren und beiseitelegen? (Beziehungsweise sind es ja immer unzählige übereinander, handelt es sich weniger um Kreise als um die Spuren des Kreisens. Um Bewegungsstudien.) "Die Frage nach dem Ende hat sich mir eigentlich schon am Anfang gestellt, dass ich mir überlegt habe, wann endet dieses Kreisen, der Versuch der Annäherung." Und wann jetzt? Wenn die Bleistiftspitze abbricht? Genau. Wenn das Material oder der Arm ermüdet. Und wie viele Blätter hat sie inzwischen archiviert? "Sicher 70. Einige hab ich auch weggeschmissen, weil ich anfangs noch gar nicht so richtig verstanden habe, was ich da tu."

Der Bleistift bellt
Die Zeit schwenkt quasi in eine Umlaufbahn um ein gedachtes Zentrum ein und zieht ihre Spur, die zugleich eine Tonspur ist. Nowak: "Wenn man dem Kreisen zuhört, kann man sich auf andere Dinge einlassen, die nichts mit dem Kreisen zu tun haben." Im kleinen Kinosaal der Galerie kann man ihm tatsächlich lauschen, wird eine Zeichnung gewissermaßen abgespielt wie eine Schallplatte (das Zeichenpapier als Tonträger), wird man regelrecht eingekreist, um-kreist von einem schleifenden, mitunter beinah bellenden Geräusch, vom verstärkten O-Ton eines Bleistifts mit Drehwurm (eine suggestive Vier-Kanal-Sound-Installation; Sounddesign in Kooperation mit Eduardo Trivino Cely), während die Fantasie Visionen von dem, was das Ohr aufschnappt, auf die weiße Leinwand kritzelt, die genau genommen nicht leer ist, weil auf sie ein Blatt Papier projiziert wird, auf dem aber nix drauf ist. Selbst OHNE bewegte visuelle Bilder ein eindrückliches Kinoerlebnis. (Darauf muss man nun ja neuerlich verzichten und erst das Ende des aktuellen Lockdowns abwarten, bis man endlich wieder die Sitzfläche von einem Klappsesserl runterdrücken darf.)
In einem RUHIGEN Kammerl wiederum, einer stillen Disco, scheinen Hula-Hoop-Reifen aus purem Licht geisterhaft mit Schatten zu tanzen, abwechslungsreich um vage, schemenhafte Körper zu rotieren, wobei die Ringe nicht WIRKLICH leuchten, zumindest nicht von selber, lediglich geschickt angestrahlt worden sind, als Nowak ihre schwarz gekleidete, hula-hoopende Freundin gefilmt hat, die grad dabei war, den Kreis mit vollem Körpereinsatz zu ergründen. Ein minimalistisches Spektakel, zu dem ein imposanter leibhaftiger Reifen, den Lamperln in innere Unruhe versetzen, SEINE Lichtshow beisteuert.

He, einen tadellosen Kreis wie Giotto oder Dürer hat sie DOCH fabriziert, die Anja Nowak. Und ein bissl geschummelt. Hat den Tanzpartner ihrer Freundin (den mit schwarzem und weißem Klebeband umwickelten, nunmehr gestreiften Hula-Hoop-Reifen) abfotografiert und das ziemlich verzogene Ding digital nachbearbeitet und in Form gebracht. ("Der Reifen ist in echt NICHT so schön rund. Den GIBTS in Wahrheit nicht.") Hat zwei ikonisch strenge Andachtsbilder der perfekten Rundung daraus gemacht. Eins mit hellem Hintergrund, eins mit dunklem. Gegensätzliche Zwillinge.
Wo die Dächer als Vögel davonfliegen
Und was hat es mit der Wandmalerei auf sich, diesem Schriftbild, in dem sich das Wort "Circling" (englisch für "kreisen") monomanisch wiederholt? Ein Stammbaum der Kreisbewegung? Jede gebiert die nächste Generation? Falsch. Eine Siedlung. Ausgehend vom Gefühl, "dass ich das Kreisen mittlerweile bewohne", hat die Künstlerin Häuschen errichtet. Aus dem "Kreisen" (die tragenden Säulen) und geschwungenen Klammern (die Dächer, von denen zwei als Vögel davonfliegen – wegen der Zentrifugalkräfte?).

Im zweisprachigen Büchl "Lebensschwung / Swing of Life" dreht sich – no na – ebenfalls alles ums Kreisen, das förmlich zur Lebenseinstellung wird, dennoch enthält es MEHR Wörter. Poetisch philosophische Betrachtungen von Arnold Berger. ("Je länger ich um mein Kreisen kreise, desto verständlicher wird die Mitte.") Ein "endloser" Lesestoff, eine unendliche Geschichte. Ist man am Schluss des deutschen Teils angelangt, dreht man das Ganze um und ist wieder am Anfang (der englischen Übersetzung). Und wer zu faul zum Selberlesen ist, kann sich Kopfhörer aufsetzen. Kann es sich als Hörbuch geben.
Eine in wohltuender Klarheit durchkomponierte Schau. Bis ins letzte Detail wird die reduzierte Ästhetik durchgehalten. Sogar die Exemplare des Büchleins werden zu dezenten installativen Akzenten. Gelungen.