Kennen Sie die? Nein, das wird jetzt kein gegenderter Witz, keine Witzin, ich will vielmehr eine Anekdote loswerden (die zugegebenermaßen genauso gut ein völlig frei erfundener Witz sein könnte, der auf KEINE wahre Begebenheit zurückgeht – Wahrheitsgehalt folglich ohne Gewähr). Ein Bildhauer soll also einmal gefragt worden sein, ob es denn schwer sei, einen Löwen in Stein zu meißeln. Und seine ziemlich lustige Antwort war: "Nein, überhaupt nicht. Man braucht bloß alles wegzuschlagen, was nicht nach Löwe AUSSIEHT."

Aha, und was hat das mit der Ausstellung in der bechter kastowsky galerie zu tun? In der gibt es zumindest keinen einzigen Löwen. Und schon gar keinen aus Stein. Wenn, dann wäre er natürlich aus Holz. (Oder – seltener – aus Bronze.) Aber immerhin einen Hai hab ich gesichtet. Ansonsten lauter Kinder. Und junge Frauen mit mädchenhaftem Körper. Im Prinzip macht der Mario Dilitz (offenbar NICHT der Name des Bildhauers aus obiger Geschichte) allerdings genau dasselbe wie der, der einen Stein zu einer Raubkatze gebändigt hat. Nur dass er eben alles, was keinerlei Ähnlichkeit mit einem MENSCHEN hat (oder mit einem Hai) entfernt. Alles Unmenschliche (und Unfischige) wegmeißelt, -schnitzt und –feilt. Bzw. alles, was sich nicht nach Mensch (oder Hai) ANFÜHLT.

Bitte nicht stören: Mario Dilitz' "Nummer 169" träumt im Stehen. 
- © Mario Dilitz/bechter kastowsky galerie

Bitte nicht stören: Mario Dilitz' "Nummer 169" träumt im Stehen.

- © Mario Dilitz/bechter kastowsky galerie

Auch Kopfgeburten haben einen Nabel

In einem knapp vierminütigen Video aus seinem Atelier (https://vimeo.com/119315285) erklärt er nämlich unter anderem den Unterschied zwischen Handwerk und Kunst: "A guter Kunsthandwerker schnitzt des weg, was er weiß, und der Künstler schneidet des weg, was er fühlt." Sein Handwerk muss der Tiroler, der "am liebscht’n mit Holz" arbeitet, selbstverständlich auch beherrschen. Besonders weil er ohne reale Modelle auskommt und die kindliche und erwachsene Anatomie inzwischen sichtlich auswendig kennt.

Nicht, dass die schlanken Leiber, die er aus dem Holzklotz "schält", alle gleich ausschauen würden. Ja, sämtliche Figuren strahlen dieselbe Ruhe aus. Posieren streng, doch nicht ARCHAISCH streng (oder gar militärisch stramm), auf ihren Sockeln. Stehen einfach so da, gerade, frontal ausgerichtet. Ohne Anspannung, unverkrampft. Die Gesichter: anonym (die Skulpturen sind lediglich nummeriert) und möglichst neutral in der Mimik. Ein bissl versonnen höchstens, entrückt. Auf jeden Fall seelenvoll. Und sie besitzen das, was man gemeinhin Anmut nennt. Okay, bei allen – dezenten – physiognomischen Unterschieden ist es DIESELBE Anmut. No na, schließlich stammen die Mädeln und Buben aus demselben Gedächtnis. Sind quasi Kopfgeburten. Und verfügen dennoch über einen Nabel.

"Nummer 185" (Bronze von Mario Dilitz) kann sich durchboxen. 
- © Mario Dilitz/bechter kastowsky galerie

"Nummer 185" (Bronze von Mario Dilitz) kann sich durchboxen.

- © Mario Dilitz/bechter kastowsky galerie

Die Stille schaut ins Narrenkastl

Apropos Nabel. Viel nackte Haut zeigt das Holz. Wobei die eigentliche Sinnlichkeit weniger von irgendwelchen Brüsten oder knackigen Frauenhintern kommt (oder für die Fußfetischisten: von den bloßen Füßen) als vom Fleisch des Holzes. Oder der Hölz-er. Aus denen (durchwegs heimische) klebt sich der 1973 in Innsbruck geborene Künstler, der mittlerweile in Axams (Innsbruck-Land) und München (Bayern) wohnt, die Blöcke ja erst zusammen, die er nachher bearbeitet.

Unterschiedliche Maserungen stoßen abrupt aneinander und die Leimfugen zeichnen ihre eigenen Linien, sorgen für einen zusätzlichen grafischen Reiz, für NOCH mehr Lebendigkeit in der kontemplativen Stille, die den Betrachter sehr direkt anblickt oder durch ihn hindurchschaut, ins Narrenkastl starrt. Oder kurzerhand die Jalousien runterlässt, sich hinter geschlossenen Lidern verschanzt. Eines dieser stummen Gegenüber, die den Besucher anschweigen, hat jedenfalls die Augen zu. Umarmt verträumt einen Polster. Hat sowieso keine Fettpölsterchen, in die es sich hineinkuscheln könnte.

Hairaten kann man nur mündlich

Mit den Accessoires und Attributen ist er sparsam, der Dilitz. Setzt kleine irritierende (oder humorvolle) Akzente. Mit Boxhandschuhen zum Beispiel, die dünne Ärmchen nach unten ziehen. Und eine Unbekleidete trägt ihre Schuhe nicht an den Füßen, sondern lieber in den Händen. (HAND-Schuhe?) Oder die Irritation ist größer. Haifischgroß. Wenn ein Bub, Handtuch um die Lenden, anscheinend einen Hai hinter seinem Rücken "versteckt". Was MACHT der Hai da? Hm. Trockenschwimmen? Eindeutig was Surreales. (Zumal es sich nicht um einen aufblasbaren handelt.) He, kennen Sie – diesmal DEN? Fragt einer: "Wollen wir hairaten?" (Der zweideutige Scherz funktioniert halt leider nicht schriftlich.) Darauf sie: "Zu spät. Ich hab ihn bereits gegoogelt. Ist ein Ammenhai." Im Originalwitz sagt sie zwar: "Ich kenn aber nur den Weißen", MEINE Version passt freilich besser zur Ausstellung.

Was versteckt die "Nummer 186" von Mario Dilitz denn da vor der Mama? Die surreale Pointe. (In der Bronze-Version.) 
- © Mario Dilitz/bechter kastowsky galerie

Was versteckt die "Nummer 186" von Mario Dilitz denn da vor der Mama? Die surreale Pointe. (In der Bronze-Version.)

- © Mario Dilitz/bechter kastowsky galerie

Noch dazu wo das tatsächlich ein Ammenhai ist. Den hat der Dilitz ausnahmsweise nicht aus seiner Erinnerung geangelt, für den hat er eine Vorlage verwenden müssen. ("Haie laufen mir nicht so oft über den Weg.") Damit er ihn genauso naturgetreu schildern kann wie René Magritte seinen Apfel, der dem berühmten Maler des Surrealismus auf einem Selbstporträt vorm Antlitz schwebt. (Granny Smith?) Und Magrittes Apfel war sogar prophetisch. Hat das iPhone vorhergesehen, das die strahlenden Gesichter verdeckt wie der Mond die Sonne während einer totalen Sonnenfinsternis. Andererseits ist der Apfel im Apple-Logo ANGEBISSEN.

Japaner sagen ja zum Hai

"Wieso der Hai dort isch, des weiß i selber net", gesteht sein Schöpfer im oben erwähnten Kurzvideo. Er hat wie immer angefangen, eine Idee plastisch aus Ton zu skizzieren, in einem Prozess aus Modellieren und Reagieren auszuformulieren, "und plötzlich war der Fisch hinten oben". Als surreale Pointe. ("Für mich war’s einfach stimmig, dass der da hinten raufg’hört.")

Ach, wahrscheinlich ist das eh kein Hai. (Sondern? Ein japanisches Ja?) Denn hat nicht Magritte ebenfalls dauernd bestritten, dass sein Apfel ein Apfel wäre? "Ceci n’est pas une pomme", hat er auf der Leinwand notiert. "Dies ist kein Apfel." Und was ist es dann? Das ABBILD eines Apfels. Und in einen gemalten kann man nun einmal nicht reinbeißen. (Oh, ist das Stück Obst deshalb heil, wenn er seinen visionären Blick in die Smartphone-Zukunft wirft?) Und ein geschnitzter Hai kann sein PUBLIKUM nicht beißen, das ihn unbedingt streicheln muss. (Kann ich bestätigen. Hab’s ausprobiert.) Trotzdem hat niemand auf den Sockel geschrieben: "Ceci n’est pas un requin" – dies ist kein Hai. Wurscht. Das Holz ist echt. Und was der Mario Dilitz draus gemacht hat, verdammt präsent.