Mit diesem Blumenstillleben stimmt etwas nicht. Das ist irgendwie andersrum. Die Blüten sind im BAUCH der Glasvase, während der Stängel raussteht. Und viel zu lang ist, sich genüsslich durch die halbe Galerie Kandlhofer rekelt, bevor er schließlich in einer anderen, diesmal leeren Vase abtaucht, die wiederum durch Schläuche mit zwei weiteren mysteriösen gläsernen Behältern verbunden ist. Außerdem BEWEGT es sich, das Stillleben. Ein absolutes No-Go. Warum können die Rosenblätter denn nicht stillhalten? Wieso müssen sie dauernd herumstreunen? Na ja, das liegt wahrscheinlich daran, dass das kein Blumenstillleben IST. Sondern ein Ameisennest. Ein schwebendes.

 

Den Garten mit Blumen füttern

 

Maximilian Prüfer (Jahrgang 1986), der es im Zentrum seiner "Inwelt" (Ausstellungstitel) aufgehängt hat und der bereits notorisch mit Insekten zusammenarbeitet (Fliegen hat er etwa eine erschreckend wiedererkennbare Kopie der Mona Lisa oder der Sonnenblumen von van Gogh anfertigen lassen), deutet auf die "Vase" am andern Ende: "Hier ist der Pilz, den die mit den Blättern ernähren." (Äh, Schimmel? Wie ein wohlgeformtes, stattliches Schwammerl sieht die amorphe Masse jedenfalls eher weniger aus.) Die Blattschneiderameisen, die man da beim Ernten live beobachten kann ("Die mögen Rosen sehr gerne.") und wie sie sie stückerlweise über den "Stängel", eine Liane übrigens, zu ihrem "Garten" schleppen, fressen die Rosen nämlich nicht selber. Sie kauen sie lediglich vor. Für besagten Pilz, mit dem sie in Symbiose leben und den sie damit füttern, um sich nachher ihrerseits von IHM zu ernähren.

Maximilian Prüfer macht es seinen Blattschneiderameisen nicht leicht. Bis zum Pilzgarten ist's ein weiter Weg. 
- © Maximilian Prüfer

Maximilian Prüfer macht es seinen Blattschneiderameisen nicht leicht. Bis zum Pilzgarten ist's ein weiter Weg.

- © Maximilian Prüfer

 

Beschaulich, diese wandernden roten Farbtupfer. Ein konzeptuelles Action-Painting in Zeitlupe? Und woher hat der Deutsche die Liane? Diese imposante Kletterpflanze? Aus irgendeinem Dschungel? Einem tropischen Regenwald? Falsch. Aus Bayern. So was gibt’s in BAYERN? Schmäh-ohne? Antwort des Künstlers: "So was gibt’s ÜBERALL." Die Blattschneiderameisen kommen aber vermutlich NICHT in Bayern vor, oder? Doch. Prüfer: "Im Fachhandel." Die hat er demnach gekauft, nicht in der Wildnis gefunden.

 

Das Ganze ist letztlich eine lebendige 3D-Visualisierung von der Idee, die Prüfer in den Schwarzweiß-Bildern an den Wänden rundum umgesetzt hat. Mit einer selbstentwickelten Aufnahmetechnik, an der er Jahre geforscht hat. Optisch haben die von ihm so genannten "Naturantypien" ja was Kosmisches. (Sternenhimmel.) Oder MIKRO-Kosmisches. (Nervenbahnen.) Oder was von einem Fotogramm. Fotogramm? Eine kameralose Fotografie. Objekte auf lichtempfindlichem Material platzieren und belichten. Woraufhin sich die exponierten Stellen schwärzen. He, genau wie beim Sonnenbrand. Streng genommen ebenfalls ein Fotogramm. Halt eines in Farbe, zumal die Haut (der "Film"), sofern sie europäisch hell ist, ROT wird statt schwarz. Und wo während der Belichtungszeit (beim Sonnenbaden) die Uhr oder die Badehose war, bleibt sie kasig.

Blattschneiderameise unterwegs: Maximilian Prüfer bringt Leben in die Galerie Kandlhofer. 
- © Maximilian Prüfer

Blattschneiderameise unterwegs: Maximilian Prüfer bringt Leben in die Galerie Kandlhofer.

- © Maximilian Prüfer

 

Der Honigtopf als Fernsteuerung

 

In Wirklichkeit sind die weißen Linien Ameisenstraßen (in dem Fall von ordinären Gartenameisen, "wie sie jeder ab und zu in der Wohnung hat"). Und die "Sterne"? Diese weiß leuchtenden Kreise, zu denen sie hinführen? Da waren die Honigtöpfchen drauf, die der Prüfer den Krabbelviecherln, regengeschützt in Boxen, als Köder quasi direkt vor die Haustür gestellt hat, in die Nähe ihres Baus ("damit sie sie auch finden können"). Eigentlich hat er sie mit dem Bienenprodukt ferngesteuert. Bestochen. Dazu gebracht, seine Bilder zu malen. (Eine Variante der Pleinairmalerei? Von französisch "en plein air": im Freien.) Oder sie fertigzumalen. Grundiert hat er sie ja noch selber. Und woraus BESTEHT dieses hypersensible Schwarz, mit dem er das Papier beschichtet hat und das dermaßen empfindlich ist, dass es sogar die leisesten Ameisenschritte, von denen es gekitzelt wird, registriert und sichtbar macht? "Das ist ein Geheimnis."

 

Ein Selbstporträt als Ameise? Irgendwo auf diesen Drohnenfotos ist ein kleiner Punkt und das ist der Maximilian Prüfer. 
- © Maximilian Prüfer

Ein Selbstporträt als Ameise? Irgendwo auf diesen Drohnenfotos ist ein kleiner Punkt und das ist der Maximilian Prüfer.

- © Maximilian Prüfer

Sind die Ameisen also seine Mitarbeiterinnen? Da legt er sich nicht fest, der Prüfer. ("Ich mag das nicht bewerten, ob sie jetzt meine Assistentinnen sind oder ob sie einfach das tun, was sie tun.") Menschen und Ameisen. Letztere kommunizieren mittels Sekreten, Duftstoffen. Markieren mit Pheromonen. "Bei unserem Denken", erklärt Prüfer, "verwenden wir auch Transmitter, Botenstoffe im Kopf." Seine Conclusio: "Die Ameisen denken außerhalb ihrer Körper. Sie bilden im Prinzip ein Gehirn zusammen. Was man auf den Bildern sehen kann, sind gewissermaßen ihre Gedanken." Ach, deshalb nennt er die Serie "Forming Thoughts". Interessant.

 

Homo sapiens – und dann? Ameise!

 

In seinem Selbstporträt als Ameise (zumindest ist er da so WINZIG wie eine) sind die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Spezies frappant. Das Foto, das eine Drohne aus einem Kilometer Höhe geschossen hat (und er, dieser klitzekleine Punkt auf der Erde, war der Pilot), zeigt Trampelpfade der Zweibeiner in der Landschaft ("das ist bei mir um die Ecke"), die jenen der Sechsbeiner fast aufs Haar gleichen. "Was die Frage aufwirft, ob wir nicht schon eine kollektive Intelligenz ausbilden." Wie der Ameisenstaat eben. Heißt das, der moderne Mensch mutiert schön langsam zur Ameise? Homo erectus, Homo sapiens, Ameise? (Vom aufrechten Gang und vom Sitzen am Schreibtisch kriegt man ohnedies früher oder später Rückenweh.)

 

Diese nächste Stufe der Evolution hat der Homo sapiens in einer Region in China anscheinend längst erreicht. Okay, die Leute sind nicht eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht und fanden sich in ihren Betten zu Ameisen verwandelt. Nein, sie sind nun Bienen. Notgedrungen. Bzw. müssen sie in den Obstplantagen deren Job erledigen. Per Hand. Weil die fleißigen summenden Bestäuberinnen in dieser Gegend blöderweise ausgestorben sind. Prüfer wird bei seinem Aufenthalt dort selbst zur Biene, bestäubt eine einzige Blüte (und nicht einmal zur Sicherheit eine zweite, als Zweitbesetzung, so überzeugt ist er offenbar von seiner Potenz), wartet geduldig und vertrauensvoll bis zum Herbst, erntet die eine perfekte Birne, die er daraufhin in Bronze gießt. (Die zweite im Kistl stammt vom selben Original.)

Künstliche Befruchtung: Eine einzige Blüte auf einem der Bäume links hat der Maximilian Prüfer per Hand bestäubt. In einer bienenfreien Region. Rechts: sein Baby 
- © Jennifer Gerardo

Künstliche Befruchtung: Eine einzige Blüte auf einem der Bäume links hat der Maximilian Prüfer per Hand bestäubt. In einer bienenfreien Region. Rechts: sein Baby

- © Jennifer Gerardo

 

Eine Frucht der Erkenntnis? JENER Erkenntnis, dass der Mensch seine Schwarmintelligenz besser schleunigst dazu nützen sollte, seine Umwelt pfleglicher zu behandeln? Sonst geht es ihm irgendwann so wie dem Gregor Samsa in Kafkas "Die Verwandlung". Nur dass er schwarze und gelbe Querstreifen haben wird. (Das Projekt ist derzeit auch Teil der MAK-Ausstellung "Climate Care – Stellen wir uns vor, unser Planet hat Zukunft".)

 

Moment: Und wer hat den Honig gemacht, in den der Künstler seine Fotos (Impressionen von der Reise) eingelegt hat? Eh richtige Bienen. Von anderswo in China. ("China ist ein sehr großes Land, wie man weiß.")

 

Sandkörner zählen ist nicht romantisch

 

Apropos Schwarmintelligenz. Wie es um die vielbeschworene "Wisdom of the crowd" BESTELLT ist, um die Weisheit der vielen, ob sie echt existiert (oder bloß eine nette Theorie der Statistiker ist), wird parallel zur Schau in einem Mitmach-Experiment ergründet. Auf https://howmuchsand.com kann jeder raten, wie viele Sandkörner im abgebildeten und mit dem Cursor drehbaren Glas drin sind. Der Durchschnitt sämtlicher Schätzungen sollte dann annähernd der tatsächlichen Anzahl entsprechen. Und wie will der Prüfer das überprüfen und seinem Nachnamen gerecht werden? Indem er die Kördln eigenhändig zählt.

 

Hm. Klingt nach einer Zen-Übung. Wenn ich recht habe mit meinen 100 Millionen und er pro Sekunde ein Sandkorn schafft und die Nächte durchmacht, braucht er mehr als drei Jahre. Selbst bei EINER Million sind’s noch elfeinhalb Tage. Andererseits hat er seine Ausdauer (und feinmotorischen Fähigkeiten) eindrucksvoll bewiesen, als er beispielsweise in seiner Schmetterlingssammlung die bunten Schuppen der fragilen Flatterer in Flascherln abgefüllt hat (wenn ich mich recht entsinne: farblich sortiert) oder die blauen Pigmente des Morphofalters einzeln von dessen Flügeln gepflückt und penibel in einer Linie aufgereiht hat. Dem ist folglich ALLES zuzutrauen. (Übertreibt er’s nicht ein bissl mit der deutschen Gründlichkeit?)

 

Grenzgeniale Naturstudien, die Kunst und Wissenschaft, Mensch und Tier, Na- und Kul-tur in spannende Dialoge verwickeln. Und nur so harmlos und romantisch tun.