Früher hätte man ihn einen Beserlpark genannt, nun trägt die Lokalität in der Josefstadt den etwas großspurigen Namen "Lisette-Model-Platz". Es ist noch gar nicht lange her, dass die Künstlerin mit diesem Straßenschild geehrt wurde. An den vier Bankerln gemessen, würde man nicht denken, dass es sich um eine Person handelt, die großen Einfluss darauf hatte, wie die Fotografie in den USA sich entwickeln sollte. Und deswegen beginnt die neue Ausstellung in der Albertina, ein Überblick über das fotografische Werk der USA von den 1930ern bis in die 2000er, ausgerechnet mit einer Österreicherin. Lisette Model floh 1938 nach New York und machte sich daran, die New Yorker auf Negativ zu bannen. Sie tat dies auf eine neue Art: Mit ihrer Rolleiflex konnte sie beinahe unentdeckt Gesichter festhalten, die von gestellten Posen weit entfernt waren. Gut, manchmal dürften ihre "Opfer" etwas geahnt haben: Die eine von den zwei mittelalten Damen unterm Schleierhut, die hier in den 40ern einer Modeschau beiwohnen, schaut alarmiert, als hätte sie ein fast wienerisches "Putz dich" auf der Zunge.

Voyeuristische Variationen

In der Ausstellung "American Photography", die ein üppiges Repertoire von 190 Bildern von 33 verschiedenen Künstlern präsentiert, werden Models Werken Bilder ihrer berühmtesten Schüler gegenübergestellt. Diane Arbus ist mit ihrem berühmten Porträt von den eineiigen Zwillingen genauso dabei wie mit einer Bardame mit überwältigend hohem Dutt, der sich im kaum weniger extravaganten Dekopudel ganz wunderbar spiegelt. Der angedeutete Voyeurismus bei Lisette Model wird bei Arbus nur mehr zu einem Rahmen, bei Richard Avedons Porträts äußert er sich einfach in Geduld: So lange zu warten, bis die posierende Berühmtheit die Maske fallen lässt - etwa Marilyn Monroe in einem besonders melancholischen Moment.

Singen bis die Haare zu Berge stehen - oder der Federschmuck. Ein sensationelles Foto, obwohl oder weil diese Sängerin 1946 in New York wohl nicht wusste, dass sie von Lisette Model porträtiert wurde. - © 2021 Estate of Lisette Model / Courtesy Baudoin Lebon Gallery, Paris and Keitelman Gallery Brussels
Singen bis die Haare zu Berge stehen - oder der Federschmuck. Ein sensationelles Foto, obwohl oder weil diese Sängerin 1946 in New York wohl nicht wusste, dass sie von Lisette Model porträtiert wurde. - © 2021 Estate of Lisette Model / Courtesy Baudoin Lebon Gallery, Paris and Keitelman Gallery Brussels

Ein weiterer Raum zeigt, wie ein anderer Europäer, der aus der Schweiz stammende Robert Frank, die US-Fotografie revolutionieren und prägen sollte. Ohne seinen Bildband "The Americans", in dem er das Land und seine Gesellschaft der späten 1950er wenig schmeichelhaft und mit ganz und gar nicht neutralem Blick porträtierte, gäbe es die moderne Street Photography gar nicht. Er war es, der zutiefst amerikanische Mythen wie den Cowboy brach, in dem er sich auf eine Gruppe von Stetson-Behüteten, die die Leiche eines Autounfalls bewachen, konzentrierte. Er schaffte es, nur mit dem Bild einer Straße in New Mexico, die düster in den Horizont führt, Assoziationen zum "American Dream" und den Versprechen der Freiheit gräulich einzufärben. Ihm zur Seite gestellt sind Fotografien von William Klein, der mit seinen Bildern auch einen gesellschaftlichen Kommentar abgab: Etwa mit einer Horde pelzbemantelter New Yorkerinnen im Aufmarsch zum Weihnachtsshoppen bei Macy‘s 1955. Ihre kämpferischen Blicke in Richtung Betrachter lassen vermuten, dass man besser nicht zwischen sie und das Sonderangebot geraten möchte.

Gregory Crewdson erzählt mit seinen komplett inszenierten Fotos Kurzgeschichten mit subtilem Gänsehautfaktor. Ohne Titel, 1998-2002. - © Courtesy Gagosian / Gregory Crewdson.
Gregory Crewdson erzählt mit seinen komplett inszenierten Fotos Kurzgeschichten mit subtilem Gänsehautfaktor. Ohne Titel, 1998-2002. - © Courtesy Gagosian / Gregory Crewdson.

Gary Winogrand führte Robert Franks Tradition weiter: Er dokumentiert den Start der Mondrakete Apollo 11 - ähnlich wie Erich Lessing es vorzog - dadurch, dass er die Besucher der Tribüne, die ihre Kameras und Fernrohre hochrecken, abbildet. Ein Foto aus dem Central Park Zoo zeigt eine weiße Frau und einen schwarzen Mann, die beide Schimpansen wie Kinder herumtragen. Lee Friedlander wiederum fotografierte gern durch Fensterscheiben, etwa in einen Eissalon, in dem der Inhaber und ein junger Bub auf die in den Reflexionen erkennbare Menschenmenge blicken. Friedlander hatte auch einen schrägen Humor, etwa wenn er eine Art Selbstporträt machte, in dem er bedrohlich als Schatten im Genick einer Frau auftaucht. In den 80ern griff Joel Sternfeld Robert Franks Ästhetik auf, etwa mit dem Bild einer aufgelassenen Uranmühle in der Einöde - es wirkt ein wenig wie das Einstiegsbild in einen Coen-Brüder-Film.

Rot und unheimlich

Ein Mann, der über den Times Square eilt, in Gedanken, gestresst, im typischen Großstadt-Modus. Philip-Lorca diCorcia inszeniert ihn dramatisch wie einen Hollywoodstar in einem Film - der Mann weiß nichts davon: Kopf Nr.1, 2000. - © Philip-Lorca diCorcia
Ein Mann, der über den Times Square eilt, in Gedanken, gestresst, im typischen Großstadt-Modus. Philip-Lorca diCorcia inszeniert ihn dramatisch wie einen Hollywoodstar in einem Film - der Mann weiß nichts davon: Kopf Nr.1, 2000. - © Philip-Lorca diCorcia

Filme fallen einem auch bei Joel Meyerowitz’ Fotos ein, allerdings eher in der David-Lynch-Kategorie. Ein Schmuckstück der Schau ist sicher sein "Red Interior" von 1977 (eine von vielen Leihgaben von Ex-US-Botschafter Trevor D. Traina): Ein Auto - die Türen sind offen, es leuchtet rot aus dem Inneren - steht vor identischen Häuschen. Nur die Autos davor zeigen etwas Individualität, der Himmel hat ein unwirkliches Blau. Dieses Spiel mit der Grenze zum Unheimlichen beherrscht Gregory Crewdson mit seinen inszenierten Fotos, die bildgewordene Kurzgeschichten sind, zur Perfektion. Sie machen deutlich, warum der Begriff "uncanny" eigentlich unübersetzbar ist.

Die Ausstellung, kuratiert von Walter Moser und Anna Hanreich, präsentiert auch die fotografische Postmoderne von den Rollenspielen der Cindy Sherman zu biografischen Serien von Nan Goldin. Sie begleitete etwa ein befreundetes schwules Paar, von dem ein Mann an Aids verstirbt. Bei einer unscheinbaren Fahrt im Bus fängt sie den Blick des Partners ein, der weiß, dass er allein übrigbleiben wird. Herzzerreißend.

Mehr Theatralik - die aber letztlich wieder zu Lisette Model zurückführt - beweisen die Fotos von Philip-Lorca diCorcia. Er hatte an einem Baugerüst am Times Square eine Kamera mit Blitz montiert, die Passanten ohne ihr Wissen ablichtete. Es entstanden dramatische Porträts von Großstadttypen, ihre Hast, ihre Isolation wird von ihm wie ein Hollywoodstar inszeniert. Amerikanischer geht es kaum.