Vor einem Jahr war der 100. Todestag des in Livorno geborenen und in Paris lebenden Bildhauers, Malers und Zeichners Amedeo Modigliani (1884 bis 1920). Damals wollte die Albertina die Ausstellung "Modigliani. Revolution des Primitivismus" auch zeigen. Ein Gemälde der Sammlung Batliner, ein weiblicher Halbakt, gab weitere Anregung dazu. Durch die Pandemie ein Jahr verschoben, kommen jetzt dennoch Leihgaben aus allen wichtigen Museen Europas und Amerikas und aus zahlreichen Privatsammlungen.
Kurator Marc Restellini, der am Katalog des Gesamtwerks arbeitet, wollte keine Retrospektive, er wollte das um die Folgen des Kolonialismus heiß diskutierte Thema Primitivismus aufgreifen. Es ist zu begrüßen, dass die Kunstgeschichte sich nicht aus lauter politischer Korrektheit der hinterfragten Begriffe und Bildtitel entledigt, sondern differenziert mit Saaltexten Stellung nimmt zu diesen heiklen Fragen; damit ist jedes Empört-Sein entkräftet - ganz im Sinn des Historikers und politischen Philosophen Achille Mbembe aus dem Kamerun.
In den Pariser Künstlerkreisen

Amedeo Modigliani: Elvira mit weißem Kragen (1917/1918).
- © Fonds de dotation Jonas NetterModigliani, der zu Lebzeiten nur eine Ausstellung in einer Pariser Galerie hatte, die wegen seiner gewagten Aktdarstellungen aber geschlossen werden musste, und der kaum Käufer fand, hat den Star der Pariser Szene, Pablo Picasso, zu einem neuen Stil verholfen. Nach dem Kubismus wurde der Rückblick auf die Ursprünge der Kunst in der Zeit der Kykladen, aber auch der Blick über Europa hinaus bis zu den Khmer und nach Angkor Wat, Indonesien und Afrika für die Avantgarde am Montmartre entscheidend. 1906 kam Modigliani, nach Studien in Florenz und Venedig, nach Paris. Wegen seiner Lungenkrankheit konnte er die zuerst ausgeübte Bildhauerei ab 1914 nicht weiterführen, daher wechselte er zur Malerei.

Amedeo Modigliani: Jeanne Hébuterne (1918).
- © Fonds de dotation Jonas NetterAls Bildhauer fand er vor allem Anschluss an Constantin Brancusi, aber auch an den intellektuellen Kreis der modernen Künstler um Max Jacob, Guillaume Apollinaire, André Derain und Pablo Picasso. Dabei ist er den griechischen archaischen Skulpturen der Athener Akropolis ebenso verpflichtet wie Brancusi den Etruskern: Beide teilten die Begeisterung für die kykladischen Idole des 3. Jahrtausends vor Christus.
Die Ausstellung bringt als Gegenüberstellung zu den Skulpturen der Modernen und den langgezogenen Sandstein-Köpfen, die so typisch sind für Modigliani, passende Vergleiche; zwar nicht aus dem Palais du Trocadéro, wo die Künstler sie damals sahen, aber formal sehr genau abgestimmt. So finden sich Holzkaryatiden aus dem Kongo oder Masken der Gabun neben einem Kopf aus Angkor Wat. Im Katalog sind auch die altägyptischen Beispiele vor allem durch die gemeinsame Kopfform mit zahlreichen Zeichnungen Modiglianis sowie die Terrakotten der frühen archaischen Plastik der Griechen als ergänzende Vergleichsabbildungen zu finden.

Amedeo Modigliani: Léopold Zborowski (1916). - © Krause & Johansen / Fonds de dotation Jonas Netter
Das sehr spezielle Interesse der Modernen für die afrikanischen Kollegen - und dabei die hohe Anerkennung dieser anonymen frühen sowie der afrikanischen Künstler, weit über die europäische Kunst hinaus, kann die Kampf-Argumentation kolonialistischer Bluttransfusionen für die Kunst des Westens ohnehin entkräften. Das ethnografische Museum im Trocadéro war allerdings tatsächlich verstaubt und kolonialistisch, was Picasso auch kritisierte. Die Magie der Objekte und nicht ihre formalen Eigenheiten waren entscheidend für die Künstler, diese anderen Welten mit sehr bewusster Ambivalenz aufzunehmen. Kurator Restellini startet mit diesem Thema, und den wichtigen Vergleichen der Künstler untereinander, um dann aber doch die vielen Porträts und die Akte des Malers Modigliani in einigen Räumen allein für sich wirken zu lassen.
Früher Tod
Modigliani sah Picasso oder Chaim Soutine so seltsam starr und hässlich wie die frühen Dämonen. Eine gewisse Steifheit zieht sich durch sein ganzes Werk; es ist die formale Abstraktion der Archaik. Allerdings starb Modigliani bereits mit 35 Jahren an Tuberkulose. Wer weiß, wie sein Alterswerk ausgesehen hätte?
Der Blick auf diesen wichtigen Protagonisten der Moderne in Paris und auf das nach wie vor brisante Thema Primitivismus ist erstmals in Mitteleuropa möglich. Es gab noch keine Personale von Modigliani in Wien, und auch der Bezug zu den frühen gotischen italienischen Malern wie Giotto oder zu Sandro Botticellis Renaissance wird in den vielen Porträts und Akten seiner Lebensgefährtin Jeanne Hébuterne spürbar. Die Kunststudentin nahm sich als ledige Mutter, von ihrer Familie nach seinem Tod verstoßen, das Leben. 1918 war sie mit Modigliani und dem Ehepaar Zborowski 1918 vor dem Ersten Weltkrieg nach Nizza geflohen. Dort wandelte sich die Strenge seiner Malerei in einen quasi klassizistischen späten Stil, so wie Picasso vom deformierenden Kubismus wieder eine "Rückkehr zur Ordnung" seiner klassischen Strandbilder fand.
Die Glut der Farben blieb Modigliani bis zuletzt, jedoch wurde der Farbauftrag dünner, die manieristische Streckung der Figur aber war bis zum Schluss das Markenzeichen. Dieses verhilft dem ständig mittellosen und auf Almosen seiner Kollegen angewiesenen Modigliani heute am Kunstmarkt zu dreistelligen Millionenbeträgen.