Wenn einer, der den Rahmen eigentlich immer gesprengt hat und aus diesem dauernd herausgefallen ist, behauptet, er befände sich innerhalb desselben ("Ich: Im Rahmen"), dann zeugt das entweder von Chuzpe oder von Selbstironie. Oder es ist schlichtweg – wahr. Schließlich ist in dem vermeintlich leeren Bilderrahmen tatsächlich ein Selbstporträt verborgen. Nämlich im Profil des Rahmens. Das ist dem Profil des Künstlers nachempfunden. Außerdem handelt es sich bei dem Künstler um Timm Ulrichs und das ist immerhin derselbe, der sich 1961 zum "Ersten lebenden Kunstwerk" erklärt hat (und Kunstwerke rahmt man halt gerne ein).
Entsprechend heißt gleich die komplette Ausstellung (von Kuratorin Sabine Kienzer für die Untitled Projects präzise zusammengestellt) "Im Rahmen", die den mittlerweile 81-Jährigen ("Ich bin lange dabei, aber nicht so bekannt geworden, wie ich es verdient hätte") mit einer klugen Auswahl aus seinem umfangreichen Oeuvre würdigt. Wortspiele bis zur konkreten Poesie, Zweideutigkeiten, eine bildhafte Sprache, die sich in Objekten visualisiert und materialisiert, und überall versteckte Pointen und Aha-Erlebnisse.
Ein Sessel macht "Sitz"

Statt eines SCHIFFS in der Flasche eine FLASCHE in der Flasche. Eine zermahlene allerdings. (Timm Ulrichs' "Zwei Flaschen".)
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon LopezEine Flasche hat zum Beispiel die Aufschrift: "Zwei Flaschen." Hm. Und wo ist die zweite? In der ersten. Wie man ein Schiff in eine Flasche kriegt, ist hinlänglich bekannt, doch wie bekommt man eine Flasche in eine noch dazu vollkommen identische Flasche hinein? Indem man Letztere mit deutscher Gründlichkeit zermörsert und die Brösel in Erstere einfüllt. Rest in Pieces.
Das Paradox, dass ein Sessel was zum Sitzen ist, selber dagegen steht, hat der Deutsche 1970 brutal elegant gelöst, indem er einem das Sitzen beigebracht hat. Bzw. ihn eben nicht in den Ruhe-Stand entlassen hat, sondern in den Ruhe-Sitz. "Der erste sitzende Stuhl (nach langem Stehen sich zur Ruhe setzend)", verkündet das Taferl auf dem sichtlich erschöpften Exemplar mit den eingeknickten Hinterhaxen. Und dieser Pionier, dieser Erste seiner Art, existiert anscheinend ganze 250-mal. ("Edition 250.")
Beim Schäfchenzählen kommt Ulrichs dafür bloß auf . . . zwei: "Zwei schwarze Schafe" (2016/2017). Von denen ist eines zwar streng genommen weiß, in einer Herde mit scwarzen Schafen ist allerdings das einzige weiße das sprichwörtliche schwarze, der Außenseiter. (Und insgesamt halten sich 48 Schäfchenfigürchen unter der Acrylglashaube auf. Eine weiße Herde mit einem schwarzen Austauschschaf und eine schwarze Herde mit einem weißen Austauschschaf.)
Banal ist nicht egal, sondern kompliziert
Die Irritationen sind meist subtil (ein runder Spiegel, der langsam rotiert, aber weil das Spiegelbild auf dem "Bildträger" nicht fixiert ist, sich nicht mitdreht, zumal ein Spiegel kein Gedächtnis hat, fällt einem das praktisch nicht auf), im Grunde also ziemlich simple Arbeiten, die mit unglaublicher Raffinesse und Zurückhaltung die insgeheime philosophische Komplexität des Banalen enthüllen. Weil das Banale nicht so banal ist, wie es tut.

Timm Ulrichs kommt beim Schäfchenzählen auf "Zwei schwarze Schafe" (2016/17). Denn manchmal ist selbst das weißeste Schaf ein schwarzes.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon LopezIhn einen Konzeptkünstler zu nennen, den Timm Ulrichs, der 1961 folgendes Flugblatt drucken ließ: "ICH erkläre GOTT zu meinem kunstgegenstand! (jeder gottesdienst gilt mir.)" (oder der 2014 rote Farbe ins Rote Meer geschüttet hat, damit es seinem Namen endlich gerecht wird), das greift freilich eindeutig zu kurz. (Nicht, dass er kein Konzept hätte. Im Gegenteil. Er hat sogar mehr als nur eins. Und eine seiner konzeptuellsten Arbeiten ist gar 20-teilig – und die hat er obendrein gleich zweimal erledigen müssen, weil mit der ersten Version Betrüger abgehauen sind.) Drum bezeichnet er sich selber ja auch als "Totalkünstler". Hat in den 1960ern eigens die "Werbezentrale für Totalkunst / Banalismus / Extemporismus" gegründet.
Mit vollem Körpereinsatz löscht er seither unermüdlich die Grenze zwischen Kunst und Leben (und Tod) aus, hat sich selber kunstgerecht in einer Vitrine ausgestellt, ist mit Blindenstock, dunklen Brillengläsern und einem eindeutig zweideutigen Schild auf der Brust ("Ich kann keine Kunst mehr sehen!") 1975 durch die Kölner Kunstmesse getappt oder hat sich 1981 für zehn Stunden in einer klaustrophobischen Mischung aus Sarkophag und Uterus wie ein Embryo gekrümmt (quasi in einem hybriden Gebärsarg aus Granit, einem innen ausgehöhlten und an seine Körperformen angepassten Findling).
"Haben Sie mal den Besen da?"
Als ich mich während der Vernissage mit ihm unterhalten habe, hab ich ihm natürlich aufmerksam in die Augen geblickt, regelrecht gestarrt, besonders ins rechte, aber nein, beim normalen Lidschlag bemerkt mans nicht: das Tattoo auf dem Augenlid. Da hat er sich am 16. Mai 1981 mit grad einmal 41 ein "THE END" stechen lassen. Die letzten – stummen – Worte in einem Film, seinem Film. Und das Leben ist ein solcher, ein Augenkino, wos zum Schluss finster wird. Ob er vielleicht die Augen kurz zumachen könnte? Oder mit dem rechten wenigstens einmal zwinkern? Will er nicht. Schaut angeblich nimmer so gut aus, die Tätowierung. Ihn zu bitten, seinen Oberkörper freizumachen und mir seine Zielscheibe zu zeigen, hab ich mich sowieso nicht getraut.
Die Zielscheibe hat ihm 1974 ein spanischer Fremdenlegionär mehr in die Brust gerissen als auf sie drauftätowiert. ("War wahnsinnig schmerzhaft, aber musste sein.") Ein politisches Manifest gegen das Franco-Regime. Weiters ist er auf dem linken Arm signiert und hat über dem linken Knöchel ein Copyrightzeichen mit dem Zusatz "by Timm Ulrichs". Und der ist nun einmal Künstler und Werk in Personalunion.

Die Sprache ist ein Würfelspiel: Timm Ulrichs verwürfelt die Buchstaben des Wortes "CASUAL" zu "CAUSAL". Ein "aleatorisch-anagrammatisches Text-Objekt" (1982).
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez"Wer hat denn hier gepfuscht?!", ruft er plötzlich aus. Er jedenfalls nicht. Er ist offenbar Perfektionist. Und fragt darum als Nächstes: "Haben Sie mal den Besen da?" Haben sie. Allerdings den falschen. ("Der ist zu hart.") Bevor sie den richtigen bringen. So ein Handbeserl, mit dem sich der Künstler sogleich neben seine Sandkiste hinkniet, in die irgendwer reingegriffen hat, und sämtliche Spuren des Grapschers verwischt. "Man muss so tupfen, sooo." Also keinesfalls kehren. Das ist ja kein buddhistischer Zengarten. Sondern ein Würfelspiel. (Sind Würfel nicht Zufallsgeneratoren?)
Die Garde der Bleistifte
Im Sand verstreut: Sechs Pflastersteine, die auf ihren sechs Würfelseiten je einen Buchstaben jenes englischen Wortes eingraviert haben, das auf der Holzeinfassung der Sandkiste steht ("CASUAL": zufällig, beiläufig, salopp), und jemand hat jetzt "zufällig" aus "CASUAL" das Anagramm "CAUSAL" (= ursächlich) gewürfelt. Selbstverständlich nicht zufällig. Und der Ulrichs hat zudem eine Schablone für die Position der "zwanglos verteilten" Würfel in diesem "aleatorisch-anagrammatischen Text-Objekt". Timm Ulrichs ist übrigens ein Anagramm von "Milch ist Rum" oder, naheliegender: "Stich mir Ulm!" (Eine Aufforderung, ganz Ulm zu tätowieren? Oder ihm den Namen der Stadt Ulm in die Haut zu ritzen?)
Etwas im Hintergrund hält sich daneben die "Demonstration der Bleistifthärtegarde". Tschuldigung: "-grade", nicht "-garde", da hab ich wohl die Buchstaben ein bissl durcheinandergewürfelt. Vermutlich weil die 20 Blätter so militärisch stramm in Zweierreihen angetreten sind. Von butterweich bis 10 H ("die härtesten, die werden schon gar nicht mehr hergestellt", wofür der Computer verantwortlich sein soll) wird jeder Härtegrad penibel durchexerziert. Form und Inhalt verschmelzen zu einer Leistungsschau des Bleistiftsortiments. Anders ausgedrückt: Mit einem 8B-Bleistift wird "8B" geschrieben (und feinsäuberlich schraffiert) und so weiter.
Und weil die mehr als 50 Jahre alten Originalzeichnungen von irgendwelchen Schwindlern ergaunert worden sind, hat der Totalkünstler sie nunmehr mühsamst rekonstruiert, ein zweites Mal ausgeführt. Mit den Originalschablonen und –minen. Was "sehr anstrengend" war. ("Ich muss mich extrem konzentrieren.") Bloß weil etwas konzeptuell (und unscheinbar) ist und die Idee betont, bedeutet das eben nicht, dass da kein Aufwand getrieben würde.
Was macht die Mona Lisa im Pornoheft? Lächeln!
Apropos Härtegrade: In Pornoheftln hat Ulrichs überraschenderweise jede Menge Prominenz entdeckt. Er musste lediglich woanders hinsehen. Nämlich hinter das anonyme Fleisch und all die Verrenkungen. Auf die Wände. Ein Van Gogh, ein Botticelli, Gauguin, Vermeer, Hopper, Kandinsky, Warhols "Marylin", sogar die Mona Lisa lächelt von dort herab. Für die Serie "Kunst & Leben" hat er den Fokus auf diese Meisterwerke im Hintergrund gelegt, hat er den Blick des Museumsbesuchers auf die pornografischen Szenen geworfen. Skurril, originell und irgendwie sensationell. Ulrichs: "Das (Anm.: der Bildband) war mein absoluter Bestseller. Ich hab 200.000 Stück ohne Verlag gedruckt und alle waren weg. Sex sells."

Immerwährender Jahreszeitenkalender von Timm Ulrichs. Alle drei Monate bitte weiterdrehen. Auf den Winter hat man übrigens nicht vergessen, die weißen Buchstaben sind lediglich im Schnee versunken.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon LopezUnd das Stufenpodest, über das man unweigerlich drüber muss, um nach nebenan zu gelangen? Zuerst mutmaßt man arglos: Okay, da droben wird der Besucher/die Besucherin selber für einen Augenblick zur Skulptur, zum lebenden Kunstwerk. Bis ein Finger in die Ferne deutet, auf eine relativ große Digitalanzeige mit einer zweistelligen Zahl drauf, und eine Stimme sagt: "Schauns einmal, das ist Ihr Gewicht." So schnell ist noch kein Kunstwerk von seinem Sockel herabgestiegen. Echt hinterfotzig. Da hilft kein Baucheinziehen.
Frauen gehen lieber zu zweit auf die Waage
Ach, deswegen trägt diese physische und psychologische Hürde den Titel "Das gewogene Publikum". Vorher ist das Publikum dem Künstler gewogen, nachher wird es gewogen. "Wir haben kein Empfinden für unser Gewicht", meint Ulrichs. Und benötigten deshalb ein Instrument, das uns über uns informiere: eine Waage. "Wenn ich drei Flaschen Bier die Treppe hoch trage, weiß ich: Das sind eineinhalb Kilo. Wenn ich die drei Flaschen Bier getrunken habe, merk ich es nicht." Na ja, ich würde wahrscheinlich auf allen vieren die Treppe hochkriechen.

Podest für lebende Kunstwerke? Falsch. Perfide Körperwaage ohne Ausweichmöglichkeit. "Das gewogene Publikum" von Timm Ulrichs.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon LopezMänner sollen mit dieser übergriffigen Installation, laut Auskunft ihres Urhebers, meist kein Problem haben. Als er in einem Museum die Stiege mit einer Waage präpariert hat, sind die Frauen hingegen "zu zweit raufgegangen, damit die andere schuld ist". Nachsatz: "Oder sie haben den Lift benutzt." Tja, hätte er in diesen halt ebenfalls eine Waage eingebaut.
Muss man denn überhaupt in den nächsten Raum? Unbedingt. Und weil ich genauso gemein bin wie der Timm Ulrichs, verrate ich nicht, warum. (Ätsch! Lasst euch doch selber wiegen!) Nur so viel: Zwei Lampen spielen mit, von denen die eine auf die andre steht, die andre aber nicht auf die eine. Und trotzdem sind beide Stehlampen. Phänomenal.