Viele glauben ja immer noch, Vincent van Gogh hätte sich einen Teil seines rechten Ohrwaschels abgeschnitten. (Oder sogar das ganze.) Dabei hat er überhaupt nicht sich mit verbundenem Ohr gemalt. Sondern? Wen denn dann? Na ja, sein – Spiegelbild. Und das ist bekanntlich seitenverkehrt. Deshalb wars natürlich das linke Ohr.
Der Martin Schnur benutzt ebenfalls gern Spiegel, diese Dinger mit den guten Reflexen (jedenfalls reflektieren sie schnell), um mit diesen allerdings weitaus irritierendere Illusionen zu erzeugen, als lediglich rechts und links zu vertauschen. Er verwendet sie als Portale in . . . eine verwirrendere Welt. Ein bissl wie in "Alice hinter den Spiegeln". Bloß ohne Humpty Dumpty und ohne Tweedledum und Tweedledee. Abgesehen davon, dass seine Alice das Wunderland komplett für sich allein hat.
Ohne Zauberstab geht gar nichts

Scherben bringen Blick: Meisterstück aus Martin Schnurs Serie "In sich selbst" (2021).
- © Daniela BeranekEr begibt sich also mit der zu teleportierenden Person, die durchaus Alice heißen könnte (der junge Mann dagegen eher nicht), und einem Spiegel in eine leerstehende Wohnung ("i kenn einige Makler"), und am Ende landet die Person in einer wildromantischen, ursprünglichen Au, während ihr Spiegelzwilling im Zimmer zurückgeblieben ist. Ach so, das allerwichtigste Werkzeug sollte ich vielleicht noch erwähnen: den Zauberstab.
Zauberstab? Ist der gebürtige Steirer (Jahrgang 1964), der heute in Wien lebt, ein Magier? Fast. Wenn man das g gegen ein l austauscht und das i wegstreicht. Ein Maler demnach. Ein fulminanter noch dazu, dessen aktuelle Serie "In sich selbst" grad in der bechter kastowsky galerie eine enigmatische Stimmung verbreitet. Und sein Zauberstab ist selbstverständlich der Pinsel.
Mit dem "zaubert" er freilich erst später im Atelier, nachdem er die Fotos aus der Wohnung mit Naturaufnahmen collageartig kombiniert hat. Am Computer? Nein. ("Nix mitn Computer, i arbeit mitn Stanleymesser.") Außen und innen verschmilzt er zu einer neuen räumlichen Logik, die Realitätsebenen amalgamieren zu surrealen Bild-im-Bild-Visionen, in denen die menschliche Figur gleichzeitig draußen und drinnen ist und sich Auge und Verstand, die lustvoll in die Irre geführt werden, gierig zu orientieren versuchen.
Auch ein gemalter Stein macht Wellen
Der Spiegel (ein foliendünner Theaterspiegel, der sich leicht wölbt, wellt und schon allein dadurch für pittoreske Effekte sorgt) treibt wie ein Raumschiff durch traumartige kosmische Gefilde (bzw, wie ein spaciger fliegender Teppich) oder schwimmt als Floß auf dem ruhigen Gewässer, die Passagierin beugt sich zu ihrem Spiegelbild hinunter, das ihr seinerseits die Arme aus einem Türrahmen entgegenstreckt.

Martin Schnurs "Überwindung des Raumes #2" (2021): Sprung in eine verkehrte Welt.
- © Daniela BeranekUnd mitten im Sprung (in die Luft, nicht in den Hyperraum) scheint die Schwerkraft endgültig außer Betrieb zu sein ("Überwindung des Raumes"), und Regeln wie: dass oben oben und unten unten ist, gelten im Spiegelland sowieso nimmer. Schnur, auf einen Himmel zeigend, der sich verflüssigt hat: "Das ist eigentlich verkehrtes Wasser." Nämlich auf dem Kopf stehend. Aus einer umgedrehten Landschaft.
Und wenn kein Spiegel beteiligt ist (und die Gravitation wieder eingeschaltet), drückt sich eine isolierte Gestalt mit entrücktem, introvertiertem Blick oder lauernd an einer Wand herum, die wiederum plötzlich ins Grüne umschlägt. Interieur und "unberührte" Wildnis prallen abrupt aufeinander, eine Topfpflanze vermittelt tapfer zwischen den Sphären (macht den Dolmetscher?), oder die scharfe Grenze wird mit einem Stein aufgelöst, einem gemalten, den der Künstler kurzerhand in einen gemalten Tümpel plumpsen lässt und damit konzentrische Wellen provoziert, die sich über die Trennlinie hinweg ausbreiten.
Die Muster kann man zur Not wegmalen

Die Natur nimmt Kontakt auf: "In sich selbst im Rhythmus der Pflanze #2" (2021), seelenvoll gemalt von Martin Schnur.
- © Daniela BeranekWie ein Regisseur inszeniert Martin Schnur seine Modelle und das Licht. Kostet jeden Lichtreflex genüsslich aus, jeden samtigen Schimmer auf der Haut, jede Falte im Gewand. Gibts denn einen Dresscode? Irgendwelche Kleidervorschriften? Sagt er seinen Modellen, was sie beim Fotoshooting anziehen sollen? Nicht direkt. "Ich sag nur immer: nix Gemustertes. Aber das kann i eh wegmalen." Spiegel mögen schlecht lügen können (oder gar nicht schwindeln), Maler können das mit ihrem magischen Streichinstrument, ihrem Pinsel, umso besser.
"Ich bin jetzt kein Überfotorealist. Ich bin kein Helnwein", gibt er unumwunden zu. Muss er auch nicht sein, ein Helnwein. Solange er der Schnur bleibt, der die Leinwand (oder eine Kupferplatte) mit einer sinnlichen, seelenvollen Malerei füllt, deren Rätsel jeder selber lösen muss.