Das Kunsthaus Zürich ist ein Museum der Superlative. Die soeben eröffnete Sammlung ist der größte Ausstellungsort der Schweiz und mit rund 206 Millionen Franken Baukosten, umgerechnet 242 Millionen Euro, wohl auch einer der kostspieligsten; das Kunsthaus war und ist zudem umstritten wie kaum ein anderes Bauvorhaben des Landes. Von der Idee bis zur Fertigstellung dauerte es 20 Jahre - und selbst nach der glanzvollen Eröffnung am 9. Oktober will der Streit kein Ende nehmen.

Schachtelästhetik: Der Chipperfield-Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich, das Foto zeigt die Außenansicht mit Pipilotti Rists Installation "Tastende Lichter". - © Kunsthaus Zürich / Franca Candrian
Schachtelästhetik: Der Chipperfield-Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich, das Foto zeigt die Außenansicht mit Pipilotti Rists Installation "Tastende Lichter". - © Kunsthaus Zürich / Franca Candrian

Die Zürcherinnen und Zürcher entzweite zunächst die Frage, ob das ursprüngliche Kunsthaus, 1910 am Standort Heimplatz eröffnet und seitdem mehrfach erweitert, überhaupt einen weiteren Ergänzungsbau benötige. Noch dazu einen, der die Ausstellungsfläche mit zusätzlichen 5.000 Quadratmetern mehr als verdoppeln würde. Der Denkmalschutz war ebenfalls involviert: Für den Neubau, der sich vis-à-vis des bisherigen Museums befindet, mussten zwei Turnhallen abgerissen werden.

Meisterwerke der Sammlung Bührle: Gauguins "Opfergabe". - © Kunsthaus Zürich
Meisterwerke der Sammlung Bührle: Gauguins "Opfergabe". - © Kunsthaus Zürich

2008 gewann der Londoner Architekt David Chipperfield den ausgeschriebenen Wettbewerb. 2012 wurde das Finanzierungskonzept mittels Volksabstimmung abgesegnet, 88 Millionen Franken von der öffentlichen Hand investiert, der Rest kam über die Schweizer Lottoförderung und Fundraising. Im Winter 2015 erfolgte die Grundsteinlegung. Das Budget wurde eingehalten, die Errichtung dürfte weitgehend friktionsfrei abgewickelt worden sein.

Schuhschachtel-Ästhetik

Meisterwerke der Sammlung Bührle: van Goghs "Sämann". - © Kunsthaus Zürich
Meisterwerke der Sammlung Bührle: van Goghs "Sämann". - © Kunsthaus Zürich

Chipperfield leitet eines der renommiertesten Architektenbüros weltweit: In Berlin stemmte der Baukünstler jüngst die Neugestaltung der Museumsinsel, in Wien verantwortete er die Adaption des Traditionskaufhauses Peek & Cloppenburg in der Mariahilfer Straße.

Zürich sträubt sich nun gegen das neue Ensemble: Für die einen ist es ein überaus eleganter Bau, andere beschweren sich über die "Schuhschachtel"-Ästhetik. Tatsächlich ist die Kunsthaus-Fassade eher schlicht ausgefallen, verkleidet mit hellem Jura-Kalkstein hält sich das Gebäude innerhalb des Stadtbilds diskret im Hintergrund. Seine eigentliche Pracht entfaltet sich im Inneren - etwa das weitläufige Foyer mit poliertem Marmorboden und goldglänzenden Türfassungen; heller Rohbeton, seit geraumer Zeit der Baustoff schlechthin für moderne Museumskomplexe, dominiert die Innenausstattung, bemerkenswert auch die raumhohen Fenster; Kunst wird hier mit viel Tageslicht präsentiert. Dem Gebot der Stunde folgend, wurde klimafreundlich gebaut, siehe Material-Recycling, Fotovoltaik und thermische Sonden.

Ausgestellt sind im Neubau vorwiegend Bilder der Klassischen Moderne und zeitgenössische Kunst. Die Eröffnungsausstellung "Earth Beats" (noch bis 6. Februar 2022 zu sehen) ist ein überzeugendes künstlerisches Plädoyer für den Schutz der Erde.

Der Bau steht, der Streit schwelt. Knackpunkt sind die Sammlungen. Die neuen Räumlichkeiten beherbergen nämlich überwiegend private Sammlungen. In Wien kam es rund um den Bau des Leopold Museums, das im Museumsquartier kürzlich sein 20-Jahr-Jubiläum feierte, einst zu ähnlichen Debatten, die am Ende zu der Gründung einer Stiftung führten: Das Sammler-Ehepaar Leopold brachte seine Kunstwerke in eine Stiftung ein - gegen die Zusicherung, dass die Republik der Sammlung ein Museum bauen und den fortlaufenden Betrieb garantieren werde. Der Neubau in Zürich beherbergt ebenfalls private Stiftungen, darunter die rund 200 Werke umfassende Giacometti-Stiftung, aber eben auch viele private Leihgaben auf begrenzte Zeit, zum Teil sogar mit vorgezogener Kündigungsklausel. Hierzulande wäre ein Museumsbetrieb auf dieser Basis kaum denkbar, doch Kunsthaus-Direktor Christoph Becker setzt auf das in Zürich über Generationen hinweg gewachsene Vertrauen zwischen privaten Kunstsammlern und Kunsthaus.

Kunstaffiner Waffenhändler

Das größte Konfliktpotenzial birgt die Sammlung Bührle: Mit 170 Werken ist sie die umfangreichste Privatkollektion im Haus, enthält wichtige Werke von Vincent van Gogh, Manet, Cézanne sowie Picasso - und nimmt im Neubau beinahe ein ganzes Stockwerk ein.

Allerdings ist die erlesene Kunstsammlung des Waffenfabrikanten Emil G. Bührle nicht ohne die Gräuel der NS-Zeit denkbar: Bührle erwirtschaftete sein Vermögen, indem er Waffen gleichermaßen an Nazi-Deutschland wie an Großbritannien verkaufte. Historiker haben weiters herausgefunden, dass Bührle eine in Berlin ansässige Firma betrieb, in der KZ-Häftlinge Zwangsarbeit verrichten mussten. Auch weiß man inzwischen, dass der Industrielle den Großteil seiner Kunstsammlung während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erworben hatte: Er kaufte Bilder, die durch Plünderung und Vertreibung jüdischer Sammler und Galeristen günstig auf dem Kunstmarkt zu haben waren. Die Sammlung Bührle ist historisch schwer belastet. Die Raub- und Fluchtkunst soll nun das Herzstück des neuen Museums der Stadt sein?

Der Historiker Erich Keller kritisiert in seinem soeben erschienen Buch "Das kontaminierte Museum", dass Bührles problematische Sammlung überhaupt in einem öffentlichen Museum Einzug halte, und stellt die grundsätzliche Frage: Wie sollen Museen mit Erinnerungskultur umzugehen?

Im Kunsthaus Zürich entschied man sich dafür, über die Entstehungsgeschichte der Sammlung zu informieren. Der karge Schauraum präsentiert die Minimalvariante historischen Bewusstseins. Wünschenswert wäre, dass in den kommenden Jahren daraus eine tiefergehende Auseinandersetzung folgt. Immerhin, ein erster Schritt wurde unternommen. Zunächst beschäftigte sich nur die Stiftung Bührle selbst mit der Herkunft ihrer Kunstwerke, nun bestellte die Stadt Zürich eine Historikerkommission, um die Provenienz der Bilder zu klären, weiterführende Forschungen wurden angekündigt.

Viel war in den Eröffnungsreden von der Bedeutung eines Kunstmuseums als einem Ort der Begegnung die Rede. Vielleicht lädt die Sammlung Bührle dazu ein, sich tiefergehend mit der Rolle der Schweiz während der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Schaden würde das wohl nicht.