Die Welt ist dreidimensional. Eh klar. Meistens jedenfalls. Wenn wir nicht grad aufs Handydisplay starren, das bekanntlich zweidimensional ist. Dann leben wir in einer Flat World. Doch ansonsten ist sie in 3D. Klingt banal, ist aber halt so. Und wenn ich jetzt obendrein noch behaupte, eine Skulptur befasse sich mit dem Raum, denkt sich wahrscheinlich ohnehin jeder: No na. Denn wäre sie flach, wäre sie vermutlich keine Skulptur, sondern bestenfalls ein Relief.
Andererseits ist ein bildhauerisches Werk zwar in der Regel räumlich, deshalb muss es sich freilich nicht unbedingt auch mit dem Raum beschäftigen. So einfach ist die Sache also gar nicht. Und die Objekte, die Yu Ji in die Galerie Janda hineingestellt und –gehängt hat, sind sowieso rätselhaft, mysteriös. Über eine Länge, eine Breite und eine Höhe (bzw. Tiefe) verfügen allerdings alle.
Das Abstellkammerl aller Dinge
Der Körper und sein Verhältnis zum Raum, der ihn umgibt, (und das kann ein inniges sein oder recht dissonant, ist in den gezeigten Arbeiten meistens Letzteres) wird hier leitmotivisch zum Thema. Und Raum ist ja nicht bloß das, was sich in einem Zimmer aufhält, zwischen die Wände geklemmt wird. Oder sich draußen herumtreibt. Unter freiem Himmel. Oder im Weltall. Angeblich hat der Urknall ihn überhaupt erst erschaffen und jetzt ist er der "Behälter" aller Dinge (die ohne ihn außerdem keine Ausdehnung hätten). Ein Abstellkammerl?

Schaut leidend aus: Yu Jis "Flesh in Stone - Ghost No. 9" (2021).
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaAus diesem "Behälter" hat die Künstlerin aus Shanghai (geboren 1985), die zeitweise in Wien wohnt und folglich zwischen zwei geografischen und Kulturräumen pendelt, jedenfalls einen Sessel hervorgeholt, der in China weltberühmt ist, einen hohen Wiedererkennungswert haben soll. Der Zementbrocken, den sie darauf platziert hat, auf diesem Versatzstück eines privaten Interieurs, diesem Requisit der Wohnzimmergemütlichkeit, wirkt auf den ersten, flüchtigen Blick vielleicht wie der Abguss eines hingeknautschten Polsters. Plötzlich wird ein Torso daraus, gequält (oder müde oder beides?) vornübergebeugt, der demonstrativ ausgerechnet jenen Körperteil in die Höhe reckt, den man in einem Stuhl normalerweise eher nicht zu Gesicht bekommt, weil die Leute schlicht draufsitzen. Trotzdem heißt die Ausstellung nicht deshalb "Unseen Gesture" (ungesehene Geste).
Zement ist grau und grausam

Ja, so fühl ich mich auch manchmal. Wie der "Ghost No. 7" von Yu Ji.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaMaterie, die sich sichtlich in einem Formfindungsprozess befindet, dabei ist, menschlich zu werden. Das Abstrakte und Figurative im Widerstreit miteinander. Und diese ambivalente, schmerzverkrümmte Form wird bedrängt und eingeengt von zwei Spiegelscherben, die sich regelrecht ins Fleisch rammen und auf den Armlehnen balancieren, beschwert von zwei Steinen. Nein, Tschuldigung: Der eine Stein ist aus Wachs. Eine prekäre physische und psychische Zwangssituation. Zugleich wird die Schaulust geweckt, wird man zum Voyeur, schließlich leuchtet eine Lampe genau auf die präsentierte "Rückenansicht".
Der Beherberger des Sitzfleisches wiederum, das Fauteuil, hat ebenfalls einen "Rücken". Von dem ist die Haut brutal heruntergerissen worden. Desillusioniert starrt man auf das entblößte Skelett des Möbels, auf die schäbigen Holzrippen. Vorne hui, hinten Sperrmüll. Hat ein bissl was von einem Momento mori, von der Mahnung der allegorischen Frau Welt aus dem Hochmittelalter, deren Schauseite jung und sexy ist, und wenn sie sich umdreht, ist der Betrachter schlagartig enttäuscht und angeekelt, ist alles von Würmern zerfressen. Nicht, dass ich irgendwelche Würmer gesichtet hätte. Nicht einmal Holzwürmer.
Das Opus ist übrigens Teil der Serie "Flesh in Stone" und dort der "Ghost No. 9". Fleisch, Stein und Geist: Schon die Titel verbinden Gegensätze. Das Weiche und das Harte, das Haptische, das der Schwerkraft unterworfen ist, und das Ätherische, nicht Greifbare. Und sind Geister nicht so etwas wie Echos des Fleisches? In ihrer handfesten und im selben Augenblick tiefsinnig philosophischen Kunst, die sich vordergründig einer rohen Ästhetik bedient, kombiniert Yu generell mit Vorliebe die unterschiedlichsten Werkstoffe, oftmals vom Bau. Aus dem meistverwendeten weltweit (Zement: grau und grausam) formt sie anthropomorphe, kreatürliche Klumpen, schleift die Gussnähte nicht ab, beschönigt nichts, und verwickelt den fragmentierten Körper in heftige Materialdialoge.
Die Geister einbetonieren

Stahl + Beton = Stahlbeton. Die Version von Yu Ji ("Flesh in Stone - Ghost No. 10") sieht allerdings ein bissl anders aus als am Bau. Der verbogene Bewehrungsstahl stammt aber trotzdem von dort.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Martin Janda, Vienna"Ghost No. 7": Zementierte Körperteile, die sich anatomisch nimmer eindeutig zuordnen lassen, klammern sich an groben Holzklötzen fest, suchen Halt, raufen sich mit denen irgendwie zusammen. Ein dissoziativer, konfliktbeladener Zustand. So fühl ich mich auch manchmal. Fix und fertig. Oder das Kompositum Stahlbeton erscheint als "Ghost No. 10", als leibhaftige Horrorfantasie. Verstümmelte Betonmankerln (gut, in Wahrheit bestehen sie aus Zement, aus dem der Beton freilich gemacht wird) winden sich um ein verbogenes Stück Bewehrungsstahl.
Vergleichsweise friedlich und harmonisch gehts auf dem siamesischen Zwillingstisch zu. Oder eigentlich handelt es sich um zweieiige Zwillinge. Die Familienähnlichkeit ist dennoch unverkennbar. Zwei Tischplatten (Birke), eine pur, eine glänzend und zentimeterdick mit Epoxidharz überzogen, schieben sich mit ihren je zwei wohlgeformten Stahlhaxen schräg zu einem spannenden und ziemlich gelungenen Vierbeiner zusammen, zu einem weiteren Verweis auf einen Innenraum. Aufgetischt wird ein hybrides Stillleben, aus der Ferne unscheinbar, aus der Nähe faszinierend irritierend. Yu Ji hat dafür immerhin einen Romanesco-Karfiol und Korallen gemeinsam eingegipst respektive einen Abguss angefertigt. Hat die beiden Entitäten, die sich im "richtigen" Leben niemals begegnen würden, obwohl beide in Bodennähe vorkommen (der eine allerdings an Land, die anderen im Meer) miteinander gekreuzt, in ein und dasselbe Material "gestopft", in den Gips.
Der Karfiol kann die Fibonacci-Zahlenreihe auswendig
Und wie nennt man diesen Hybriden? Romallen? Koranesco? Und auf einmal erkennt man die optische Verwandtschaft zwischen einem der Lieblingsgemüse der Mathematiker und den koloniebildenden Nesseltieren. Mathematiker essen bevorzugt Karfiol? Keine Ahnung. Analysieren tun sie ihn gern. (Das können sie mit den Zähnen und den Magensäften selbstverständlich ebenso.) Speziell den Romanesco, der sie mit seiner Selbstähnlichkeit, sprich fraktalen Struktur betört. Und darüber hinaus ist die spiralige Anordnung der Blüten im Blütenstand mit der Fibonacci-Folge im Bunde, bei der sich die Zahlen wie die Karnickel vermehren (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144 . . .), weil jede Zahl die Summe der beiden vorherigen ist, und zudem ist die nach einem Mathematiker aus der Stadt des schiefen Turms benannte Zahlenreihe mit dem Goldenen Schnitt verbandelt.

Vierbeiner mit zwei Tischplatten. Und obendrauf ein Koranesco. Oder sind das Romallen? Jedenfalls eine in Gips gegossene Kreuzung aus Romanesco-Karfiol und Korallen. ("Forager - dessert", 2020.)
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaDer Titel des Ganzen (Tisch plus Hybrid) ist selber zweideutig: "Forager – dessert." Der erste Teil zumindest. (Der zweite ist eindeutig eine Nachspeise.) "Forager" kann man entweder mit "Wildbeuter" übersetzen (Jäger) oder mit Fourier, dem Unteroffizier, der beim Militär für Unterkunft und Verpflegung zuständig ist. Beim österreichischen Bundesheer sagt man aber WiUO dazu, hab ich mir erklären lassen. Wirtschaftsunteroffizier.
Wenn alle stehen (nämlich die Bäume) und eine sitzt
Im Souterrain nimmt Yu ein Waldstück im Lainzer Tiergarten sehr persönlich. Auf zwei Monitoren setzt sie sich intensiv mit dem Ort auseinander, verschmilzt auf dem linken Bildschirm mit der Landschaft und der Einsamkeit. Und mit der unwirklichen, entfärbten Stimmung. (Die zweiteilige Videoinstallation "Unseen Gesture" von 2017, die unter anderem 2019 auf der 58. Biennale von Venedig zu sehen war, ist nämlich schwarzweiß.)

Zwei Monitore, ein und derselbe Wald (nämlich im Lainzer Tiergarten): Yu Li macht "Unseen Gestures" sichtbar. Mithilfe eines Sessels, eines Asts und ihres Körpers.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaVor lauter Wald bemerkt man sie nicht auf Anhieb, muss man Yu wie eine kleine Staffagefigur erst finden, wie sie neben Reifenspuren, die den Schnee, nein: einen dichten Teppich aus gefallenem Laub durchpflügen, auf einem Sessel, der im Grunde nur ein dürftiges Gerüst ist, herumturnt und ihre Sitzposition dauernd ändert, einmal sogar umkippt, zwischendurch immer wieder innehält und das bewegte Bild dann zur Beschaulichkeit gefriert, zum Foto, in dem sich lediglich die Blätter sanft im Wind regen, visuell rauschen.
Und auf dem rechten Bildschirm? Agiert die Künstlerin zwischen Totholz, umgekippten Stämmen, geheimnisvoll mit einem Ast. Ein ritueller Tanz oder Kampf? Mit der Natur? Mit sich selbst?
Nicht zuletzt sorgt Yu Ji mit ihren manifestierten Körpergefühlen dafür, dass man den Raum vor lauter Dingen sieht.