Am linken Bildrand das Paradies mit Gott, Adam und Eva. Im Mittelteil genießen die Menschen überschweifend das Leben in einer Art Orgie mit Fabelwesen, menschenähnlichen Tieren, hülsenartigen Kreaturen und überdimensionalen Früchten. Die Folgen ihrer Sünden werden schaurig im rechten Bildteil gezeigt - der Hölle.

Auf den ersten Blick wirkt Mario Klingemanns Werk wie eine ganz normale digitalisierte Nachbildung von Hieronymus Boschs (1450-1516) weltberühmten Gemälde "Garten der Lüste". Doch plötzlich verändern sich im Mittelteil die menschlichen Fischkreaturen im See und die von einer Personengruppe getragene Riesen-Erdbeere am Uferrand.

Sekunden später verschwimmen auch die Konturen in der rechten Höllenszene. Der Baum-Mensch zerfließt förmlich und überlagert das darunter liegende surreale Fabelwesen, in dessen hohlem Torso schaurige Bösewichte fressen und saufen.

Der Algorithmus der von Mario Klingemann kreierten Künstlichen Intelligenz (KI) sucht sich immer wieder neue Stellen im Bild, um Boschs Gemälde einer regelrechten Echtzeit-Metamorphose zu unterziehen. Dabei übernimmt das Programm dieselben Konturen, Texturen und Farben des Ende des 15. Jahrhunderts entstandenen Originalbilds.

Bosch als Sozialspiegel

Fast 200 Stunden trainierte der deutsche Medienkünstler aus München die neuronalen Netzwerke seines KI-Programms auf Boschs Werk. "Ich möchte unseren Blick auf ein fast allen bekanntes Gemälde durch Veränderungen und Wiederherstellungen erneuern", erklärt Klingemann in Madrid, wo sein Werk im Kulturzentrum "Matadero" noch bis zum 27. Februar Teil in einer sehr interessanten Gruppenausstellung zu sehen ist.

Die Exposition "Der Garten der Lüste" ist eine Art zeitgenössische Neuinterpretation von Boschs Meisterwerk, das zwischen 1500 und 1505 entstand. Der "Garten der Lüste" des niederländischen Renaissance-Künstlers gehört zu den bekanntesten, aber auch zu den geheimnisvollsten religiösen Kunstwerken der Welt, erklärt Ausstellungskurator Oscar Hormigos. Das 220 x 390 Zentimeter große Triptychon, das sich unweit im Madrider Prado-Museum befindet, wird von vielen Kunstexperten als eine Art Leitfaden für moralischen Anstand in der damaligen Zeit gedeutet, so Hormigos.

Er vergleicht das Werk mit einem "Sozialspiegel", der die damalige Gesellschaft und speziell den Adelsstand beleuchtete. Für Boschs Zeitgenossen waren die zahlreichen Metaphern und Symbole leicht zu entziffern. Heute sind sie aber nur noch schwer zu verstehen, weshalb es im Laufe der Kunstgeschichte auch immer wieder zu unterschiedlichen Interpretationen des Ölgemäldes kam.

"Deshalb wollten wir mit einem Blick zeitgenössischer Künstler zu neuen Diskussionen über das Bild, aber auch über uns, unsere Gesellschaft, unsere Moral anstoßen", erklärt Hormigos von der privaten Kunstsammlung Colección Solo, welche die Ausstellung zusammen mit dem "Matadero" organisiert und aus dessen Beständen auch sämtliche Werke stammen.

In der dunklen Halle des ehemaligen Schlachthofs wird der Besucher zunächst von Enrique del Castillos "Umbráfono II" mit einer hypnotischen Partitur musikalisch auf die Reise in Boschs Fabelwelt eingestimmt. Ein optisches Lesegerät mit Zelluloidfilm mixt Kompositionen des 16. Jahrhunderts mit zeitgenössischer Elektromusik.

Schaurige Micky-Mäuse

Vorbei an den süß-schaurigen Micky-Mäusen der spanischen Keramikkünstlerin Lusesita gelangt man zum pastellfarbenen Ölgemälde des Kanadiers Dave Cooper mit seinen pornografischen Comicdarstellungen. Im Hintergrund wummern die tiefen Bässe des filmischen Triptychons von Carlus Padrissa, Kreativdirektor der weltbekannten spanischen Theater- und Performancegruppe "La Fura dels Baus".

In den drei Performance-Filmen stellen in der Luft schwebende Akrobaten die Schöpfung als DNA-Strang dar, vergleichen die Hölle mit dem Wahnsinn. Die Video-Installationen sind mit potenten Soundtracks untermalt, dessen Vibrationen man auf speziellen Plattformen vor dem Video-Triptychon nicht nur hören, sondern auch spüren kann.

Danach geht die Ausstellung in surreale Video-Kunst über. Das New Yorker Künstler-Duo Cool 3D World beschreibt in ihrem Werk "Der König des Lebens" mit Boschs Bildelementen die verschiedenen Stationen des Lebens. Cassie McQuater nutzt ihr in der bekannten Videogame-Heldin Angela Belti basierendes Animationswerk für einen feministischen Gesellschaftsdiskurs, während im Digitalprint-Triptychon des Chinesen Miao Xiaochun Fußball, Handys, Computer und Coca Cola die Menschen zur Sünde verführen.

Schweine und Erdbeeren

Was bei Bosch Schweine oder Erdbeeren symbolisieren, sind beim niederländischen Künstlerkollektiv Smack laufende Kokain-Teller, Sex-Puppen, riesige Katzen und Popkult-Promis von Kurt Cobain bis David Beckham. Bonbonfarbene Monster werden von Isaac Newton und Flamingos mit Satellitenschüssel-Köpfen bewacht.

Der "Gangnam Style"-Tänzer bewegt sich nur für aus dem Boden schießende Like-Finger. Das Paradies als ausschweifender, aber seltsam einsamer Ort voller Sex, Selbstbezogenheit, blinden Konsum und Popkultur. In Smacks Hölle leiden an Hashtags gefesselte Menschen und Twitter-Vögel, denen vor lauter Gucken bereits die Augen aus dem Kopf quellen.

Smacks animiertes, 4 Meter hohes und 21 Meter langes 3D-LED-Tripthychon "Speculum" verwandelt Boschs "Garten der Lüste" in eine Art Silicon Valley, in dem wir Zukunftstechnologien wie Götter verehren - und daran zugrunde gehen. Beängstigend, überraschend, abstoßend und faszinierend zugleich - ganz wie das Original.