Man nehme einen Kopierer, viel Papier, 300 Streichhölzer, ein altes Konversationslexikon (eines, bei dem das Wissen noch zwischen Buchdeckel geklemmt ist) und das Biedermeier. Oh, fast hätte ich die Hauptzutat vergessen: Zeit. Und was macht man mit alldem? Na ja, Kunst. Und dann eine Ausstellung. Anders ausgedrückt: Martina Kresta präsentiert in der artmark galerie drei Werkgruppen aus ihrem Langzeit- (oder Endlos-?)Projekt "Aufzeichnungen von bis".

"Aufzeichnungen von bis"? Klingt ziemlich buchhalterisch. Da nimmt es eine eben wirklich sehr genau mit ihrer Arbeitszeiterfassung. Andererseits sind die vermeintlichen Stundenzettel in Wahrheit Zeichnungen. Einlinienzeichnungen. Was also aussieht wie ein Ring aus feinen, engen, konzentrischen Kreisen (Tusche auf Papier), das ist eigentlich eine durchgehende Spirallinie, der Rille auf einer Schallplatte nicht unähnlich. Geduldig folgt die Künstlerin quasi der Fährte der Zeit. Macht die Zeit förmlich sichtbar

Der Geldscheißer von Xerox

Moment: Ist die Linie nicht eindimensional, während es sich bei der Zeit um die vierte Dimension handeln soll? Zumindest im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum? Wurscht, das ist Kunst, nicht die Relativitätstheorie. Jedes Blatt ist jedenfalls gewissenhaft datiert. Samt Uhrzeit. (Okay, die Pausen zwischen dem Von und dem Bis werden dafür verschwiegen.)

Dort hinten steht er: der Geldscheißer, Pardon: Kunstentwerter von Xerox. Ein stinknormaler Kopierer? Ja. Aber er hat nur eine einzige Aufgabe: ein Kunstwerk von Martina Kresta zu kopieren, zu kopieren, zu kopieren, zu kopieren, zu kopieren . . . 
- © artmark galerie, 2022

Dort hinten steht er: der Geldscheißer, Pardon: Kunstentwerter von Xerox. Ein stinknormaler Kopierer? Ja. Aber er hat nur eine einzige Aufgabe: ein Kunstwerk von Martina Kresta zu kopieren, zu kopieren, zu kopieren, zu kopieren, zu kopieren . . .

- © artmark galerie, 2022

Begrüßt wird man gleich einmal von einem Geldscheißer, der ein bissl verloren in der Gegend herumsteht. Nicht, dass der "Seavas" oder "Grüssie" jodeln würde, sobald jemand bei der Tür hereinkommt. Tschuldigung, dieser Geldscheißer von Xerox, der einen stumm willkommen heißt, ist wohl eher ein Kunstentwerter. Ein Gerät zur unkontrollierten, inflationären Vervielfältigung von Kunst nämlich. Zur Überschwemmung des Kunstmarkts mit "Blüten" (so der Titel). Mit "Funny Money" (so die englische Übersetzung des Titels). Falschen "Krestas".

Weil hebt man den Deckel, liegt darunter ein langer Kassenzettel mit zwei Stunden Arbeit drauf. Und jeder, der will, darf sich jetzt die "Aufzeichnung" vom 22. April 2008, 14 bis 16 Uhr, kopieren. Gratis. So oft er möchte. Krestas böser Kommentar zur damals grassierenden globalen Finanzkrise. Besonders gemein: Jede Kopie verringert auch insofern den Wert des Originals, als Licht und Wärme des Kopiervorgangs dem temperaturempfindlichen Thermopapier zusetzen.

Und wieder hat er eine "Blüte" ausgespuckt. (Eine Kopie von Martina Krestas "Aufzeichnung 22. April 14 - 16 Uhr 2008".) 
- © artmark galerie, 2022

Und wieder hat er eine "Blüte" ausgespuckt. (Eine Kopie von Martina Krestas "Aufzeichnung 22. April 14 - 16 Uhr 2008".)

- © artmark galerie, 2022

Und? Wie reagieren die Leute auf das Angebot? Galerist Johannes Haller: "Die meisten lehnen es ab, a Kopie zu ziehen, und die, die sich darauf einlassen, hätten gern a Kuvert, damit sie sie nicht beschädigen." (Weicheier. Beide.) 

Die Erinnerung ist doch auch nur eine Kopie

Nebenan geht’s um die Erinnerung bzw. um deren Konstruktion. (Oder Re-konstruktion?) Ums Gedächtnis. Der Begriff ist in der halb zerfallenen und in Fraktur und alter Rechtschreibung gedruckten Ausgabe von Meyers Konversations-Lexikon aufgeschlagen (sechster Band "Faidit – Gehilfe"): "Gedächtnis (Memoria), Erinnerungsvermögen, die Fähigkeit, Sinneseindrücke, einfache oder zusammengesetzte Empfindungen, Vorstellungen und Gemütszustände auch dann noch, wenn sie aus dem Bewußtsein entschwunden sind, möglichst unverändert aufzubewahren, so daß sie auf gegebene Veranlassung teils unwillkürlich wiederkehren, teils mit Absicht wieder hervorgerufen werden können; jenes heißt sich erinnern, dieses sich besinnen." (Was, bitte, ist ein Faidit? Ein Troubadour, aha.) Und trauert hier jemand der Prä-Wikipedia-Ära mit ihren dicken Wälzern nach, als man die Seiten noch analog umgeblättert und die Lektüre noch einen Geruch gehabt hat?

Sooo viele Erinnerungen (Kopien) zum "Memory"-Spielen: "A Part of Memory" von Martina Kresta, die eine wahre Zeitgenossin ist (eine Genossin der Zeit) und die die Zeit täglich mit Feder und Tusche bezeugt. 
- © artmark galerie, 2022

Sooo viele Erinnerungen (Kopien) zum "Memory"-Spielen: "A Part of Memory" von Martina Kresta, die eine wahre Zeitgenossin ist (eine Genossin der Zeit) und die die Zeit täglich mit Feder und Tusche bezeugt.

- © artmark galerie, 2022

Für die Serie "A Part of Memory" hat Kresta nun im Frühjahr 2009 an zwölf Tagen je eine ihrer typischen Aufzeichnungen gemacht (unglaublich, wie perfekt sie die Rundungen da überall hingekriegt hat, als hätte sie nichts weniger als die Vollkommenheit eingekreist – freihändig!), von jeder dieser Aufzeichnungen hat sie 24 Kopien angefertigt, diese wiederum mit jeweils einem Streichholz individuell angesengt (von zart geräuchert bis völlig verkohlt), und schließlich hat sie zwei Wände mit den durcheinandergebrachten zwölf mal zwölf und zwölf mal zwölf Kopien tapeziert und einen Sessel davor gestellt. Auf dem soll man Platz nehmen und Memory spielen. Soll die Paare zusammensuchen. Dass die Karten bereits aufgedeckt sind, macht es aber nicht leichter.

Die Kopien, die sich an die schier makellos runden Originale erinnern sollen, sind selbst Unikate. Die Brandspuren machen sie einzigartig. (Symbolisiert das Feuer, dieser Fressfeind des Papiers, das Vergessen, das der Fressfeind des Gedächtnisses ist? Eine Demenz?) Die Erinnerungen im Kopf sind doch ebenfalls nicht immer originalgetreu, verändern sich gern, wenn das Vergangene wieder einmal vergegenwärtigt wird, oder?

Nur leicht versengt (mit einem Streichholz): Diese Kopie aus der Werkgruppe "A Part of Memory" (Martina Kresta) erinnert sich noch sehr gut ans Original. 
- © artmark galerie, 2022

Nur leicht versengt (mit einem Streichholz): Diese Kopie aus der Werkgruppe "A Part of Memory" (Martina Kresta) erinnert sich noch sehr gut ans Original.

- © artmark galerie, 2022

Kompliziert. Oder lediglich komplex? Auf alle Fälle verdammt konzeptuell. Nicht zuletzt, weil sich zu allem Überfluss noch die abgebrannten Zündhölzln am Rande des Geschehens zusammendrängen, die sich dunkel (rußig schwarz) an die Flamme erinnern. 25 Zwölfergruppen. Macht insgesamt 300 Stück. (Warum 25? Weshalb nicht 24? Weil sich etwas abseits ein weiterer Satz Kopien herumdrückt. Samt dazugehörigen Zündern.) 

Brave Mädchen kommen ins Biedermeier

Witzig originell: die "Serviervorschläge", bei denen man sich wertvolle Anregungen holen kann, wie man die "Aufzeichnungen" ansprechend "anrichten" könnte. Am besten passt offenbar eine reaktionäre Familienidylle dazu. Eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert. Denn Kresta hat im heilen Biedermeier-Ambiente "für brave Mädchen" (in den klappbaren Puppenhaus-Interieurs aus Karton) kurzerhand die Bilder an der Wohnzimmerwand durch ihre eigenen ersetzt. Durch Miniaturen, die sich auf "Uhren" reimen, und irgendwie sind ihre Zeichnungen ja Zeitmesser.

Auch in diese kleine, heile, auf- und zusammenklappbare Biedermeier-Welt hat sich Martina Kresta hineingeschummelt. Hat im Wohnzimmer ihre Tuschezeichnungen (Originale!) in die vorhandenen Bilderrahmen montiert. Oder dort, wo Platz ist. 
- © artmark galerie, 2022

Auch in diese kleine, heile, auf- und zusammenklappbare Biedermeier-Welt hat sich Martina Kresta hineingeschummelt. Hat im Wohnzimmer ihre Tuschezeichnungen (Originale!) in die vorhandenen Bilderrahmen montiert. Oder dort, wo Platz ist.

- © artmark galerie, 2022

Jeder im Raum verhält sich friedlich, liest Zeitung oder ein Buch (heute würden halt alle auf ihr Handy starren), die Mama hat ein Kind auf dem Schoß, ein Bub reitet sein Steckenpferd (der E-Scooter war eben noch nicht erfunden). Und leben wir nicht grad im Neo-Biedermeier? Hat uns der Gesundheitsminister nicht eine neue Kultur der Häuslichkeit verordnet? Inklusive Homeoffice? Und im Lockdown ist unsere Hauptbeschäftigung sowieso: Wohnen.

Akute Nostalgie mit bissigem Humor. (He, sind die Beschriftungen der Exponate etwa mit der Schreibmaschine getippt?) Martina Krestas Tuschefeder kreist während ihrer unermüdlichen Wiederholung des scheinbar Immergleichen, das nicht dasselbe ist, um erstaunlich brisante Themen.