Eine mysteriöse sperrige Holzkiste steht im Bildraum 01 herum. Nein, nicht wieder ein Sarg wie noch bis vor Kurzem. Dafür wäre sie doch viel zu groß. Schließlich ist sie fünf Meter lang, über einen Meter breit und zweieinhalb Meter hoch. Außerdem betritt man die letzte Kiste nicht aufrecht. Und besagte geheimnisvolle Box verfügt noch dazu über einen Hinterausgang. (Hatte der Josephinische "Sparsarg", dieses legendäre Mehrweg-Behältnis, ebenfalls. Eine falltürartige Klappe zum Auswurf der Leiche ins offene Grab hinein.)

Man muss freilich eh nicht lange rätseln, womit man es hier zu tun hat, denn erstens ist die Vordertür nicht abgeschlossen (die rückwärtige übrigens genauso wenig) und zweitens verrate ich sowieso gleich, was einen drinnen erwartet. Achtung, Spoileralarm (wer selber reinschauen und sich die Überraschung nicht verderben will, jetzt nicht weiterlesen!): Es handelt sich um eine (letzte Chance, mit dem Lesen aufzuhören) . . . selbstgebaute Zeitmaschine. No na, die muss man sich selber basteln. Die gibt’s nicht regulär im Handel. 

Forever 2020

Kiste voller Erinner- und Überraschungen: "everything is happening at once" (2020/21) von Linus Riepler. 
- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Kiste voller Erinner- und Überraschungen: "everything is happening at once" (2020/21) von Linus Riepler.

- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Ein bissl erinnert sie ja an die aus der britischen Kultserie "Doctor Who". (Doctor wer? – Keine Ahnung, seinen Namen hat er in all den Staffeln und während sämtlicher Inkarnationszyklen nicht verraten.) Die ist bekanntlich als unscheinbare Telefonzelle getarnt. Bzw. als älteres Modell eines Polizei-Notrufhüttls. Und ist innen um einiges geräumiger als außen. Und wie die Zeitmaschine des Doktors ist dem Linus Riepler seine zusätzlich ein Raumschiff. Jedenfalls hat sein Trumm, bevor es in einer Galerie in Wien gelandet ist, auch schon im Traklhaus in Salzburg Station gemacht. (Die Ausstellung ist nämlich eine Kooperation der Bildrecht mit der Kunst im Traklhaus.)

Der Riepler ist ein Timelord? Nein, ein Künstler. Drum behaupten ja viele, seine Version der Tardis (ein Akronym für "Time And Relative Dimensions In Space") wäre überhaupt keine Version der Tardis mit der akronymischen Bezeichnung Eihao, sondern eine "begehbare Raumskulptur" mit dem ausführlicheren Titel "everything is happening at once" (alles geschieht gleichzeitig). Und wie erklären sich die, dass man mit dem Ding in die Vergangenheit reisen kann? Okay, lediglich in die Vergangenheit von jemand anderem, vom Künstler. Und bloß in das Jahr 2020. Gut, dorthin will im Grunde ohnedies keiner so wirklich zurückkehren. Lieber in die alte Normalität, oder? 

Das Sandmännchen ist ein Alki im Homeoffice

Plötzlich ist man also in einem Korridor, einem Durchgangsraum, der von drinnen tatsächlich länger wirkt als von draußen. Und in die Breite geht er obendrein, der Gang, zu dem den Künstler ein tschechisches Hotel inspiriert hat (ein gerahmter Kupferstich zeigt passenderweise Karlsbad). Dehnt sich seitlich in weitere Räume aus. In diverse, teils interaktive Guckkastenbühnen, die die Wände durchbrechen, die wiederum vielstimmig mit Strukturwalzen ornamentiert worden sind und auf denen die Tapetenmuster wie Schimmel wachsen. Schaukästen für Erinnerungen, rekonstruierte Vorfälle und Schauplätze.

Sieht innen irgendwie länger aus als von außen: der Korridor in der Box, die Linus Riepler eigenhändig gebaut hat. 
- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Sieht innen irgendwie länger aus als von außen: der Korridor in der Box, die Linus Riepler eigenhändig gebaut hat.

- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Gleich im ersten: ein Fernsehstar in einer kompromittierenden Situation. Zugegeben, nicht jeder, der eine Bierflasche in der Hand hält, ist ein Alkoholiker. Trotzdem: Diese leeren Augen und das ausdruckslose Gesicht – da ist jemand schwer depressiv. Der Riepler kennt das Sandmännchen privat?

Na ja, diese Szene ist vielleicht nur bedingt "nach einer wahren Begebenheit" gestaltet. Vielmehr hat sich der gebürtige Oberösterreicher, der 1984 in Vöcklabruck auf die Welt gekommen ist und 2009 sein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien abgeschlossen hat, Gedanken darüber gemacht, weshalb seit Pandemiebeginn immer mehr Leute an Schlafstörungen leiden. Seine Theorie: Das Sandmännchen ist wie dieser Kevin. Sprich: allein zu Haus. Und hat den Lockdown-Blues. Sauft sich an. "Aber wenn der trinkt und nicht arbeitet, dann kann ja keiner schlafen."

Genau. Und wie soll er die Menschen vom Homeoffice aus "einschläfern"? Der Sandmann muss Hausbesuche machen. Wie die Zahnfee. Und wenn ich am Schnürl mit dem Ringerl unten dran ziehe? Wird die Einsamkeit romantisch beleuchtet. Von außerhalb. Durchs niedliche Fenster. Bis ich wieder los- und das Sandmännchen in seinem Elend allein lasse.

Irgendwie traurig. Lustige Gute-Nacht-Geschichten werden zwischen dem Ein- und dem Ausgang halt nicht erzählt. Eher welche für schlaflose Nächte. Eine teigige bunte Masse quillt aus der Wand. (Eine Naturkatastrophe? Lava? Eine Schlammlawine?) Und wenn man gründlich sucht, erspäht man zwei Finger, die aus der vermurten Endzeit-Landschaft herausragen. Wurde jemand verschüttet? Gräbt sich ein Zombie aus? Anderswo wird ein Backblech voller Kekse von unheimlichen Zähnen bewacht. (Vorsicht, bissiger Mund!) 

Am andern Ende ist und isst keiner

Befindet man sich womöglich doch nicht im Bauch einer vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuumsmaschine? Ist man mitten in einem Horrorfilm? Immerhin ist der Hotelkorridor ein klassisches Setting des Gruselgenres, oder? Die einzigen, die kreischen, sind allerdings die Möwen (im Handyvideo, das als Erinnerungsfetzen aufflackert). Und keine minderjährigen Zwillingsgeister in hellblauen Kleidchen mit Puffärmeln fordern einen auf, mit ihnen bis in alle Ewigkeit zu spielen. (Vermutlich, weil man zu Fuß durch diesen Korridor marschiert und nicht mit dem Dreirad fährt.)

Da geht's tief runter: Auch den Tisch hat Linus Riepler gedeckt. Und der ist immerhin eine schiefe Ebene. 
- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Da geht's tief runter: Auch den Tisch hat Linus Riepler gedeckt. Und der ist immerhin eine schiefe Ebene.

- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Und wenn ich den Kopf in dieses Loch da stecke und zur selben Zeit am Schnürl daneben ziehe? Geht die Deckenleuchte aus. Etwas enttäuschend. Wieso? Was hätte sonst passieren sollen? Ein Bottich mit Schweineblut über einem ausgegossen werden? (Was die Interaktivität betrifft, muss man seine Erwartungen eben ein wenig runterschrauben. Die erschöpft sich darin, Lamperln an- und auszumachen oder dass sich ein Blumentopf beschaulich dreht.)

Auf jeden Fall blickt man in einen Abgrund. Nicht, dass es so tief runterginge wie in einem Müllschacht. Eine für zwei gedeckte Tischplatte wird zur schiefen Ebene. Und am entfernten Ende der langen Tafel ist keiner. Weder mit einem noch mit einem Doppel-s. (Am nahen Ende ist man selber. Mit einem s.) Und was gibt’s Gutes in dieser Erinnerung an "a Abendessen, das nie stattgefunden hat" (Riepler)? Wie Pancakes gestapelte Laberln in Leberkäsrosa. Und nirgends Besteck. Dafür hat wer mit dem Essen gespielt und einige Scheiben über den gesamten Tisch verteilt. Surreal. (Aber eventuell nur, weil ich die Regeln dieses im abschüssigsten Sinne des Wortes schrägen Spiels nicht durchschaut habe.) 

Der Sektkorken fliegt ins melancholische Grundrauschen

Was passiert, wenn man am Schnürl zieht? Das Stillleben hält nicht mehr still. Linus Riepler steht auf Interaktion. 
- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Was passiert, wenn man am Schnürl zieht? Das Stillleben hält nicht mehr still. Linus Riepler steht auf Interaktion.

- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Direkt brav dagegen der Nachbau einer Küche mit Asia-Flair. Oder des letzten Blicks darauf. Das Interieur sieht ziemlich exakt wie auf dem Foto aus, das der Künstler während seiner Residency in Japan geschossen hat. ("Der Moment, wo man sich verabschiedet hat und gewusst hat, man sieht’s nie wieder.")

Überall Abschiede, Enden, die nicht happy sind (oder einen Neuanfang bedeuten wie ein Wohnungsumzug: Das Foto von einer Straßenecke in Wien hält die Aussicht von der alten Adresse fest). Ein SMS ("Roman ist jetzt im Himmel") zeugt gar von einem schmerzlichen Verlust ("Ich bin im Zug g’sessen und hab die Nachricht so ’kriegt" – ein Todesfall in der Familie). Auch das welkende Blümchen, das offenbar über die Vergänglichkeit des Lebens sinniert, scheint in Trauer zu sein. Ein Vanitas-Stillleben, das nicht stillhält, sich dreht, dass man im weißen Töpfchen die hineingeritzten Konterfeis eines Mannes und einer Frau erkennt (wenn man den Mechanismus mit einem sanften Ruck am Schnürl aktiviert).

Nicht einmal der Sektkorken schafft es in diesem melancholischen Grundrauschen, in dieser latenten Weltuntergangsstimmung (He, was hat es mit diesen fotografierten Autowracks auf sich? – "Gar nix."), dass Feierlaune aufkommt. Oder verweist er auf den Silvester, die Nacht, in der Ende und Anfang aufeinanderprallen? 

Der Sessel muss Eckerlstehen

Diese Szene hat sich genau so zugetragen. Linus Riepler hat sie in "Der Sessel" nachgestellt. 
- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Diese Szene hat sich genau so zugetragen. Linus Riepler hat sie in "Der Sessel" nachgestellt.

- © Eva Kelety / Bildrecht, Wien 2022

Sehr Persönliches, Intimes und Fiktives, liebevoll brachial und mit handfestem Heimwerkercharme zusammengezimmert zu einem allgemeinmenschlichen Gesamterlebnis. "Alles Selbstbau", beteuert Riepler, der gar nicht erst versucht, die Bühnentechnik elegant zu verstecken oder irgendwas zu "verschönern". Außen (im Backstagebereich quasi, hinter den Kulissen) werden die Kabel ungeniert mit Klebeband fixiert, nackerte Birndln baumeln herum, nichts wird der Fantasie überlassen.

Wenn der, der’s gemacht hat, sagt, er sei nun einmal "kein Profitischler", ist das aber weniger eine Entschuldigung als ein Qualitätsmerkmal. Die Hausgemacht-Ästhetik hat ja durchaus ihren Reiz. Und das rustikale Spiel mit der Neugier ist auf seine rohe Art irgendwie raffiniert. Und was ist das in den zwei Plastikbechern? Aufbaustaub. Links: der zusammengekehrte Dreck aus dem Bildraum, rechts: jener aus dem Traklhaus. Konsequent.

Eine Erinnerung hat sich lebensgroß materialisiert und drückt sich beim Galeriefenster herum. Respektive hat Riepler eine zufällige Assemblage (Stuhlbein steht auf Schuh) aus seinem Alltag nachgestellt. Mit einem durchgesessenen Sessel von Willhaben, eigenfüßig getragenen, verhatschten Tretern, einem Abguss seines Atelierbodens und einer angedeuteten Raumecke. Banal? Sicher. Und ausdrucksstark. Die klaustrophobische Enge, das Starren an die leere Wand kann man förmlich spüren. Die Isolation. Ein Kommentar des Zufalls zum Social Distancing? Gefühlsecht abgefuckt. (Oder umgekehrt? Abgefuckt gefühlsecht?)