Nichts weniger als eine "Zeitreise" wird einem hier versprochen. Vom Ausstellungstitel. Aber braucht man dafür nicht einen Fluxkompensator mit einem Sportwagen drumherum? So etwas parkt in der Galerie Gans jedenfalls nicht. Ein Wurmloch, also quasi ein Schwarzes Loch mit Hinterausgang, hab ich – als Alternative – auch keines gesichtet.

Vielleicht weil die Zeitmaschine des einen der beiden Zeitreisenden einfach ein behaartes Staberl ist. (Na ja, der Christian Brandl ist Maler. Der kommt mit dem Pinsel überallhin.) Der andere spult dagegen nicht zurück, der drückt die Stopptaste. (Oder bloß auf "Pause"?) Nicht, dass der Markus Hofer über eine magische Fernbedienung verfügen würde. Als Bildhauer verdichtet er freilich den Zeitfluss zum skulpturalen Moment. 

Modisch gekleidete Stechmücken

Wenn das RAUSCHEN des Meeres in der Muschel Platz hat, wieso nicht auch sein Blau? "Der Ozean" (2021) von Markus Hofer. 
- © Galerie Gans

Wenn das RAUSCHEN des Meeres in der Muschel Platz hat, wieso nicht auch sein Blau? "Der Ozean" (2021) von Markus Hofer.

- © Galerie Gans

Die Zeit halten genau genommen eh beide an und den Augenblick fest, dehnen ihn zum ewigen Jetzt. Und einen Hang zur Nostalgie kann man weder dem Maler noch dem Bildhauer gänzlich absprechen. Ersterer hat sich dabei eindeutig in die Vergangenheit zurückgemalt. In eine Zeit vor seiner Geburt. Zumindest hat der 1970 in Erfurt geborene und heute in Leipzig lebende und malende Deutsche, dessen Nachname wie das Diminutiv einer Feuersbrunst klingt, sich da nicht selber begegnen und versehentlich die Zeitlinie verändern können. (Und womöglich Buchhändler bleiben. Statt Kunst zu studieren.)

Andererseits sind die Leute, die er auf Schiffen oder einer brandungsumtosten Insel aussetzt (oder in einen Zug hineinsetzt), angezogen und frisiert wie in den 1950er oder 1960er Jahren. Wie in der Jugend seiner Erzeuger. Für ein Großvater-Paradoxon wäre es zwar eventuell bereits ein Äutzerl zu spät gewesen, sprich dass er seinen Opa "übermalt" hätte und daraufhin entweder sein Vater oder seine Mutter nie auf die Welt gekommen wäre, ein Vater- oder Mutterparadoxon wäre sich allerdings durchaus ausgegangen. Und war das nicht gerade das Problem von diesem Marty McFly in "Zurück in die Zukunft"? Dass sich seine Mutter bei seinem Trip ins Jahr 1955 blöderweise in ihren noch nicht gezeugten Sohn verliebt hat, weshalb dieser um ein Haar nicht in die Gegenwart zurück hätte können, um mit dem DeLorean in die Vergangenheit zu flitzen und dort die Beziehung seiner zukünftigen Eltern zu überfahren? (Kompliziert.)

Seltsam eingefroren und entrückt wirken Brandls streng komponierte Szenen. Die feschen Vintage-Menschen, die in dieser klaren, sachlichen Malerei wie in einem Modemagazin posieren, haben was von Stechmücken im Bernstein. Von modisch gekleideten Gelsen. (Oder altmodisch. Im Stile der Fifties und Sixties.) Und es liegt was in der Luft. Eine Spannung. Es knistert. Zwischenmenschliches. Ein Anzugträger, verhängnisvoll eingeklemmt zwischen weiblicher Eleganz im Doppelpack, Blicke deuten ein Dreiecksdrama an. 

Wessis und Ossis: wiederverheiratete Geschiedene

Fehlen nur die Vögel: Hitchcock-Stimmung auf Christian Brandls "Insel" (2021). 
- © Galerie Gans

Fehlen nur die Vögel: Hitchcock-Stimmung auf Christian Brandls "Insel" (2021).

- © Galerie Gans

Präzise inszenierte Konstellationen und Stimmungen. Auf einem felsigen Strand sonnt sich vor der erstarrten Gischt das Unbehagen. Eine städtisch gewandete Ausflüglerin wendet sich irritiert um, als hätte sie irgendein Geräusch von außerhalb des Bildes, aus dem Off, gehört, und eine geradezu Hitchcocksche Atmosphäre legt sich auf "Die Insel". Sogar ohne Vögel unheimlich.

Subtil politisch: Brandls Diptychon "Bahn I und II", das die staatlichen Bahnunternehmen in seiner einst zweigeteilten Heimat symbolisch zu einem einzigen Zugabteil wiedervereinigt, ohne die Trennung zu leugnen, die Kluft dazwischen. (Und gleichzeitig verbandelt er den Westen und den Osten zu einem Paar. Zu wiederverheirateten Geschiedenen.) Auf der linken Tafel sitzt ein männlicher Fahrgast an einem – halbierten – Fenster der Deutschen Bundesbahn, auf der rechten ein weiblicher Fahrgast an einem – halbierten – Fenster der Deutschen Reichsbahn. Wessi und Ossi fahren gemeinsam getrennt mit der Eisenbahn. Obendrein eine originelle Antwort auf die klassischen Pendant-Bildnisse von Eheleuten, diese auf zwei Einzelportionen aufgeteilten "Doppelporträts" aus der Kunstgeschichte. (Der hakennasige Herzog von Urbino, Federigo da Montefeltro, und seine nobelblasse Herzogin Battista Sforza beispielsweise, porträtiert vom Frührenaissance-Meister Piero della Francesca . . .) 

Der Tropfen fällt vielleicht in ein paar Jahren

Rätselhaftes Objekt von Markus Hofer. Die Lösung lautet: "Farbfilm." 
- © Galerie Gans

Rätselhaftes Objekt von Markus Hofer. Die Lösung lautet: "Farbfilm."

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Und wer hat diese vielen Lackerln gemacht und die Galerie sozusagen markiert? Na, wer schon?! Da Hofa woa’s. Der schaut mir sowieso so verdächtig aus. Und er ist außerdem vollumfänglich geständig. Wobei er Wert auf die Feststellung legt, dass der flüssige (oder flüssig anmutende) Teil seines Werks "nicht gegossen" ist. Sondern? Gebaut. (Erkläre ich gleich.)

Diverse Gegenstände des Alltags bringt der gebürtige Oberösterreicher (Jahrgang 1977) und einstige Gironcoli-Schüler, dem man irgendwann selber Lehraufträge erteilt hat, äh, wo war ich? Ach ja: Da Hofa (Vorname Markus, nicht Da) bringt Alltagsgegenstände dazu, sich zu übergeben, zu spucken, schleimen, auszurinnen. Eine mit Absicht versehentlich umgekippte Farbdose trieft über die Kante, doch ehe das knallrote Malheur den Boden bekleckern hätte können, hat jemand die Notbremse gezogen, die fließende Zeit förmlich in letzter Sekunde zum Stillstand gebracht. Hofer, der sich trotz der malerischen Aspekte seiner Objekte als Bildhauer begreift: "Der spezielle Moment ist in der Bildhauerei das Thema. Du musst ja was Stillstehendes machen als Bildhauer." (Außer bei einer kinetischen Skulptur halt.)

Oder eigentlich ist seine Spezialität mehr die geronnene Zeit, nicht die abrupt abgebremste. Hängende Tropfen, in denen sich die scheinbar träge werdende Farbe sammelt, die von der Schwerkraft so langsam nach unten gezogen wird, dass sie trocknet, bevor sich der jeweilige Tropfen tatsächlich löst. Oder handelt es sich um einen Langzeitversuch wie bei diesem meditativen Pechtropfenexperiment? Und braucht man beim Betrachten mindestens so viel Geduld wie diese Forscher in Australien, die elf Jahre auf den ersten fallenden Tropfen gewartet haben? (Seit 1927 soll das superzähe Schwarz ganze neun Mal getropft haben.) 

Die Dose ist innen größer als außen

Weder klein noch braun: Markus Hofers "Kleiner Brauner". 
- © Galerie Gans

Weder klein noch braun: Markus Hofers "Kleiner Brauner".

- © Galerie Gans

Und wenn eine Muschel zu einem schier unerschöpflichen Quell der Farbe Blau wird, weil das Meer, das in ihr rauscht, plötzlich aus ihr herausquillt, muss ich als Zuagraste aus Klagenfurt natürlich sofort an die Sage vom Wörthersee-Mandl denken. Ein mysteriöses Männchen, dessen Mahnungen in höhnischem Gelächter und lustiger Tanzmusik untergegangen sind, dreht zur Strafe den Zapfhahn an seinem Fässchen auf und lässt den kompletten Wörthersee heraus und eine Stadt voller Frevler in dessen Fluten ertrinken.

Nur, dass der Markus Hofer mit seiner Kunst keinen bestraft. "Der Ozean" (ein Seestück?) ist kein Unheil, das ist Skulptur gewordene Poesie. Abgesehen davon, dass die Muschel eine vergleichsweise bescheidene Überschwemmung verursacht. Dennoch übersteigt der ausgespuckte Inhalt sichtlich das Fassungsvermögen der Molluskenschale. Genau wie beim Fässchen vom Wörthersee-Mandl, das ebenso innen viel größer ist als außen. Viiiiiel größer. Generell schenken Hofers Dosen und sonstige Gefäße mehr aus, als in sie reingeht. Sind sich niemals entleerende Füllhörner. "Ich hab das immer genannt: ,Mehr als alle dachten.‘" (Was verabreicht der denen? Abführmittel?) Das ist eben Kunst, nicht Mathematik, die kleinlich Volumina berechnet.

"Kleiner Brauner": Humor hat das Wörthersee-Mandl 2.0 demnach auch. Weder der Teil mit dem "klein" noch der mit dem "Braun" stimmt. Das Kaffeetässchen, das über seiner eigenen rosaroten Angeber-Lacke schwebt, hat eher einen Mega-Erdbeershake verschüttet als einen Mokka mit Milch. Weil einen Braunen zu bestellen, politisch nimmer korrekt ist? 

"Der ist ein Bildhauer, der darf nicht malen"

Eine Überdosis Grün: "Die Hausapotheke" von Markus Hofer versorgt uns mit dieser hochaktuellen Farbe jedenfalls nicht nur in haushaltsüblichen Mengen. 
- © Galerie Gans

Eine Überdosis Grün: "Die Hausapotheke" von Markus Hofer versorgt uns mit dieser hochaktuellen Farbe jedenfalls nicht nur in haushaltsüblichen Mengen.

- © Galerie Gans

"Suppenblume": Banaler Suppenschöpfer schöpft dunkles Blau in Blumentopf und stützt sich auf dem dünnen Farbstrahl wie auf einem Stängel ab. Da verfremdet einer dauernd ordinäre Dinge zu surrealen Schmankerln, verändert die Wahrnehmung des Gewöhnlichen. Und respektiert keine Gattungsgrenzen. ("Als ich noch studiert hab, hat’s geheißen: Der ist ein Bildhauer, der darf nicht malen.")

Ist das, was er macht, skulpturale Malerei? Sind das monochrome Schüttbilder in handfestem 3D? Und wenn sich der Begriff "Farbfilm" materialisiert, indem eine alte Kamera ein Mintgrün rausrotzt, der Tropfen wie eine Rotzglocke vom Objektiv baumelt? Ist das dann ein leibhaftiges Dripping? Auf alle Fälle sind das lauter Grenzüberschreitungen. Ein Milchkännchen beweist gar zeichnerisches Talent. Gießt eine türkise Linie aus, die Haken schlägt, unvermittelt die Richtung ändert und sich zum Schluss erschöpft in einem prallen Tropfen ausruht. ("Liquid Drawing" – Zeichnung: eine Linienkunst.) Türkis? Ständig hat ihn wer gefragt, ob das politisch sei. Und was hat er geantwortet? Nein. Denn: "Es ist auch eine Farbe."

Und wie bringt der Künstler nun seine Häferln und Kannen und so weiter wundersam zum fast schwerelosen Schweben wie einen levitierenden Straßenkünstler, der mutmaßlich mit nichts als einem dürren Stöckchen "geerdet" ist? Er lässt die Farbe trocknen und aushärten und hofft, dass sie nicht einknickt. Okay, das hat mir ohnedies keiner abgenommen, oder? 

Pinkeln und violetteln

Er sitzt in WEST-Deutschland im Zug. (Linke Tafel des "Bahn"-Diptychons von Christian Brandl.) 
- © Reprofoto, Galerie Gans

Er sitzt in WEST-Deutschland im Zug. (Linke Tafel des "Bahn"-Diptychons von Christian Brandl.)

- © Reprofoto, Galerie Gans

Selbstverständlich ist das in Wahrheit ein Trick. (Aha, heißt die violett "pinkelnde" bzw. "violettelnde" Schwebedose deswegen "Die magische Hand des Künstlers"?) Der fragile Farbstrahl ist logischerweise versteift. Mit einem Metallstab, der in einer Holzplatte steckt. Der Rest ist, nein, nicht Schweigen, sondern Spachtelmasse. Und Schleifen. Und einige Schichten Lack. Insofern also doch echte "Lacken". Mit bildhauerischen Methoden hergestellte Illusionsmalerei. Wie gesagt: Gebaut, nicht gegossen.

Hybriden aus Bildhau- und Malerei, aus Stillleben und – beschaulichem – Action-Painting. Der Gegenstand schüttet die abstrakte Kunst aus. Oder erhebt sich aus dieser, nachdem er sie selber aus seinen Hähnen gezapft hat. Bei der "Hausapotheke" ist das so. Die hat "Zitzen" für Fanta, Cola, Sprite und Mineral und säugt die Schaulust mit giftigem Grün. Woher hat er diese neckische "Amme"? "Die Dinge kommen auf mich zu." Nachsatz: "In meiner Umgebung wird nichts mehr weggeschmissen." Und warum "Hausapotheke"? Weil das eine Frucht des Lockdowns ist. ("Es war so viel Medizin in der Luft. Und zu Hause war Trinken ein Thema.")

Währenddessen auf DDR-Seite. (RECHTE Tafel von Christian Brandls Zweiteiler über die deutsche Eisenbahn.) 
- © Reprofoto, Galerie Gans

Währenddessen auf DDR-Seite. (RECHTE Tafel von Christian Brandls Zweiteiler über die deutsche Eisenbahn.)

- © Reprofoto, Galerie Gans

Der Maler und der Bildhauer haben sich zwar unabhängig voneinander auf "Zeitreise" begeben, trotzdem treffen sie sich immer wieder zufällig. Das Rot aus der Dose passt perfekt zum roten Mantel auf der Leinwand, die Muschel mit ihren ozeanischen Gefühlen gesellt sich romantisch zur verhitchcockten Küste, und ein Rohr, das aus der weißen Wand ragt, sondert einen Blauton ab, der mit den gemalten Tönen überm und unterm Horizont der Gemälde mit Seeblick harmoniert. Hm. Wieso nennt der Hofer, der die Sprache gern wörtlich nimmt, die Arbeit "Wandrohr"? Ich hätte auf "Wandfarbe" getippt. In Analogie zum "Farbfilm", dessen Mintgrün übrigens als Farb-Echo im zurückgezogenen Vorhang hinterm Zugfenster widerhallt.

Ein Bild mag zweidimensional sein, eine Skulptur sogar dreidimensional, die Zeit bringen Christian Brandl und Markus Hofer aber beide gekonnt auf das, was auch am Ende dieses Satzes lauert (und das bekanntlich nulldimensional ist): auf den Punkt.