Spätestens seit er bei den letzten Salzburger Festspielen den Jedermann genderfluid verkörpert hat, kennt ihn in Österreich, na ja: jedermann. Den Lars Eidinger. Weniger Theateraffinen war er davor vermutlich eher als Frauenmörder ein Begriff. (Aus dem "Tatort" natürlich, nicht aus den Nachrichten. Als hartnäckiger "stiller Gast" hat er den Kommissar Borowski gleich mehrmals heimgesucht.)
Als manisch-depressiver Unternehmersohn Alfred Nyssen war er ebenfalls im Fernsehen. In der TV-Serie "Babylon Berlin". Und jetzt ist er in Wien als Fotograf zu sehen. Nein, er spielt nicht den Fotografen, er ist einer. Und das eigentlich eh bereits länger. Seit er als Kind seinen Goldhamster in eine Klopapierrolle gestopft hat.
Scharf auf Hamster

Hat da jemand Klopapier gehamstert? Das soll das erste Foto überhaupt sein, das der Lars Eidinger gemacht hat. (Berlin, 1982.) Damals noch analog und mit Blitzwürfel.
- © Lars EidingerAch, das Foto hat er mit sechs gemacht? Das ist noch dazu sein allererstes? Und ich hab mich schon gewundert, warum man ein unscharfes, überbelichtetes ausstellt. Meine Theorie war: Das ist eine Pandemie-Allegorie. Stichwort: Hamsterkäufe. Zweites Stichwort: Klopapier. Und weil das so unwirklich ist, hätte der Fotograf die Szene verunklärt. In Licht und Verschwommenheit aufgelöst. Der versteht meine anfängliche Verwunderung freilich nicht, der Fotograf: "Ich finde ein unscharfes Bild nicht weniger interessant als ein scharfes." Außerdem: "Es sind ja Sachen scharf. Die Couch zum Beispiel."
Die aktuelleren Aufnahmen in der neuen ALBA Gallery (vormals Untitled Projects) sind übrigens scharf. (ALBA: von ALexander und BArbara. Und passenderweise bedeutet der Name ihres "Babys", mit dem Barbara Pretterhofer von den Untitled Projects und Alexander Baldele ihre Geschäftspartnerschaft besiegeln, "die Weiße". Aus dem Lateinischen übersetzt. Und ist eine Galerie nicht ein sogenannter "White Cube"? Ein neutraler Raum mit weißen Wänden?)
Wer sich nun Krasses, Verrücktes auf den Bildern erwartet (weil man von den extremen Charakteren, die der Eidinger offenbar gern mimt, auf seine Kunst schließt – und das mit dem Hamster klingt doch tatsächlich nicht so harmlos und stubenrein): Genau das kriegt man geboten. Nämlich die Realität. Pur. Unverfälscht. (Okay, das hätte sein stark behaartes erstes Fotomodell damals, 1982, wahrscheinlich ein bissl anders beurteilt, als es auf dem Couchtisch bis zum Hals in der Häuslpapierrolle gesteckt hat und vom Blitzwürfel einer Analogkamera geblendet worden ist.)
Die Bilder brauchen den Fotografen nicht - theoretisch
Eidinger, der seine Gedanken während unseres Gesprächs unter einer Wollhaube ausgebrütet hat (quasi), aus der seine knapp schulterlangen Haare herausgelugt haben: "Diese Bilder finden statt, auch wenn ich nicht anwesend bin." Tun sie das? Das ist andererseits möglicherweise wie bei diesem philosophischen Baum-Problem: Wenn in einem Wald ein Baum ohne Ohrenzeugen umfällt, macht er dann ein Geräusch? (Die Mitbäume haben schließlich keine Ohrwascheln. Vogerln und Eichkatzln allerdings durchaus.) Wenn also ein Mann in einer goldenen Jacke an einem goldenen Portal vorbeispaziert, ohne dass jemand die amüsante Koinzidenz registriert und gschwind ein Foto davon macht (und auf Instagram postet), ist das dann überhaupt passiert?

Alltagsbeobachtungen von Lars Eidinger, der im richtigen Moment abgedrückt hat. Links unten haben alle weiße Sneaker an, rechts unten hat sich das Obst sehr lieb.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon LopezIn Paris, Rom, New York, Mexiko-Stadt, Holzkirchen in Oberbayern hat der Berliner Alltägliches aufgeschnappt. Meist mit seiner Handy- oder zwischendurch mit der Spiegelreflexkamera. Und dokumentiert mit den Fotos und Videos (und Letzeren entnommenen Einzelbildern, die das filmische Geschehen auf den fotografischen Punkt bringen), wie gestört die "Normalität" im Grunde ist. Oder wie surreal schön sie sein kann. Und mitunter absurd komisch. (Sämtliche Wartenden in einer Sitzreihe tragen weiße Sneaker. Und die Pointe: der weiße Deko-Miniturnschuh am abgestellten Rucksack.)
"Lars Eidinger (*21. Januar 1976 in West-Berlin) ist ein deutscher Schauspieler", fängt sein Wikipedia-Eintrag an. Schauspieler, wohlgemerkt. Erst irgendwo weit hinten kommt der Punkt "DJ, Musiker und weitere künstlerische Tätigkeiten". Und weitere künstlerische Tätigkeiten. Handelt es sich folglich um einen fotografierenden Schauspieler? Welchen Stellenwert hat das Fotografieren für ihn? Seine Antwort: "Das sind Kategorien, in denen ich gar nicht denke. Auch für meinen Wikipedia-Eintrag bin ich nicht verantwortlich. Ich bin ja nicht als ,der Schauspieler geboren worden." Fotografiert habe er zudem "schon immer". ("Vielleicht ist das den Leuten halt nicht bewusst gewesen." Den Leuten von Wikipedia und den anderen.)
Wer hat Angst vorm blauen Mann?

Live oder böse? Und sogar mit i-Punkt. "Cleveland, 2021" von Lars Eidinger.
- © Lars EidingerGemalt hat er obendrein. Bzw. war er "nur" der mehr oder weniger willenlose lebende Pinsel, schutzlos (nackt und ohne Helm, Knie- und Ellbogenschützer) der Kunst ausgeliefert und kopfüber an einem Stahlseil hängend, den die Hamburger Band Deichkind 2021für ihr Video in einen Bottich mit blauer Kindermalfarbe getunkt hat, um ihn nachher über eine riesige weiße Leinwand zu schleifen. Das Ergebnis war "Die Erschaffung des Lars", eine aktionistische Hommage an Michelangelos Fresko mit den berühmtesten zwei Fingern der Kunstgeschichte und zugleich eine an Yves Klein, der sich sein ultimatives Blau (eines ohne Saugkraftverlust, ein Ultramarinblau) sogar patentieren hat lassen und ebenso lediglich mit Farbe bekleidete Leiber auf seinen Leinwänden choreografiert hat.
Der Eidinger wiederum war am Ende des Schöpfungsaktes ein Schmerzensmann, ein Märtyrer der performativen Malerei ("Ich war von Kopf bis Fuß übersät mit Schürfwunden!") und trotzdem noch "ein wahnsinniger Fan von Deichkind". Und anscheinend leidet er, der sich die Tortur im Video nicht anmerken ließ (wirkt alles so geschmeidig), nicht an einer posttraumatischen Belastungsstörung, denn nach wie vor ist für ihn eine Monochromie in International Klein Blue "das inspirierendste Kunstwerk": "Die reine Farbe ist die größte Freiheit. Jede Linie, jede Form ist schon wieder eine Limitierung." Und limitieren will er sich sowieso nicht lassen. Oder kategorisieren.
Die Einsamkeit des i-Punkts
"LIVE" ist auf die Auslagenscheibe der Galerie geschrieben. Innen. Von draußen liest man "EVIL". Mit spiegelverkehrten Buchstaben. Das Böse lebt. Dass manche Wörter zwei Seiten haben und das englische Verb "live" (leben) ein Palindrom (ein anspruchsvolleres als "Otto") und vor allem esöb ist (von hinten gelesen), das enthüllt aber bereits das titelgebende Foto. Vor der Rock & Roll Hall of Fame in Cleveland ist der Eidinger hinter die riesigen roten Lettern getreten, die dem Rock ein langes Leben wünschen ("LONG LIVE ROCK"), und hat im mittleren Teil der Botschaft ein leibhaftiges Tüpferl auf dem i entdeckt. Einen übergewichtigen Mann mit einem roten T-Shirt. Der schaut da droben fast so eremitisch aus wie der Humpty Dumpty auf der Mauer.

Vorne macht der Discowürfel unbeirrt seinen Job und tanzt in Lars Eidingers "Autistic Disco", und die Fledermaus rechts . . . ist in Wahrheit ein Flughund.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon LopezWomit wir bei der "Autistic Disco" wären, einem Ort der gemeinsamen Einsamkeit, einer Idee, die sich durch dieses multikünstlerische Oeuvre durchzieht (und auch das Motto der Partys des DJs und Musikers Eidinger war) und die sich hier, in der Ausstellung, auf einem Sockel als Readymade materialisiert. Als zum Kunstwerk erklärter hyperaktiver Discowürfel mit Farbwechsler (und unter Umständen mit ADHS), der in einer Vitrine, gefangen in seiner eigenen Welt, stur seine Show abzieht, verzweifelt Stimmung macht.
In Zeiten von Lockdowns und Social Distancing plötzlich hochaktuell, zumal vielerorts die Discokugeln, diese Zentralgestirne der Feierlaune, die vor Corona mit ihren Spiegelplättchen die Lebenslust und Ausgelassenheit reflektiert haben, inzwischen mit sich allein sind, weil es in der Nachtgastronomie finster geworden ist wie in einer Neumondnacht. Und irgendwie traurig. (Wie die Mickymaus am Gardasee, die in einem der Videos unerschütterlich ihr Programm abspult und die Passanten, von denen sie meist ignoriert wird, weil diese andere Fotomotive für weitaus interessanter halten, professionell bespaßt.) Dass die fröhlichen Lichtpunkte aus der gläsernen Gefängniszelle entkommen wie der Gesang des inhaftierten Vogels aus dem Käfig, ist bloß ein schwacher Trost.
Das Trüffelschwein sucht nicht, es findet
Wie ein Trüffelschwein spürt der Eidinger die "Autisten" auf, die selbstvergessen, entrückt, ihr Ding machen, hält er die Momente fest, in denen die gesellschaftlichen Gegensätze aufeinanderprallen, die Widersprüche, sich die Ambivalenzen offenbaren, die Skurrilitäten und Zynismen. In Köln kuschelt sich ein Obdachloser mit seinem Schlafsack ans Schaufenster eines Möbelgeschäfts, das ihn mit einer Auswahl an warmen, gemütlichen Betten geradezu verhöhnt. Und in diesem Multiversum der gleichzeitigen Parallelkosmen kann einer auf einem umgekippten leeren Einkaufswagerl hocken, während hinter ihm die Bankomaten, die Geldscheißer, voller Scheine sind, an die er nicht rankommt.

Dreimal Lars Eidinger (nein, nicht AUF den Bildern, er hat das Handy mit der Kamera gehalten): Einzelbilder aus Kurzvideos. Paris, Baden-Baden und Berkley.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon LopezMacht er Jagd auf seine Motive, der Eidinger? Geht er auf Safari? "Ne, das funktioniert nicht. Das sind ja Motive, die kann man nicht suchen, die kann man nur finden." (He, war das nicht genauso die Devise von Picasso? "Ich suche nicht – ich finde!") Etwa die bis in die Schuh- und Haarspitzen tipptopp gestylte junge Frau, die beim Eiffelturm sexy neben einem überquellenden Mistkübel posiert, der sich freilich außerhalb von jenem Bild übergibt, das ihr Fotograf grad von ihr macht. Tja, um wieder den Lars Eidinger zu zitieren: "Der Zufall kann oft mit ner Perfektion aufwarten, die gar nicht inszenierbar wäre."
Und immer wieder klaubt er das Nebensächliche auf, das rechts und links vom Tunnelblick liegt. Den Sandler, der als Stolperfalle vorm Juwelierladen lauert, den eingemauerten Baum am Straßenrand, der aus seiner Einzelhaft im Asphalthäfn auszubrechen versucht und den Boden mit den Wurzeln anhebt, und im Louvre dreht er sich kurzerhand um und nimmt das opulente Gemälde gegenüber der Mona Lisa ins Visier, erweitert Veroneses gut besuchte "Hochzeit zu Kana", die gemalte Massenszene, durch die Menge, die sich davor drängt, um vom anderen Ende des Saals ein Lächeln zu erhaschen.

Hochzeits-Crasher? Die sind SICHER nicht alle zur "Hochzeit zu Kana" eingeladen. Lars Eidinger erweitert kurzerhand das Gemälde von Paolo Veronese. (Das ist das womöglich trotz seiner imposanten Größe unsichtbarste Bild im Louvre. Weil es genau gegenüber der Mona Lisa hängt.)
- © Lars EidingerUnd der ziemlich verloren anmutende Typ in Baden-Baden, der sich in einer kahlen Raumecke an seinem Audioguide festhält, sich förmlich an den handlichen Kunsterklärer klammert? Hat ein weißes Leiberl an und verschmilzt nahezu mit dem "White Cube". Tarnen tut sich der Eidinger ja ebenfalls. Damit er ungestört und ohne Aufsehen seine Fotos knipsen kann. "Wie ich ne Präsenz hab auf der Bühne, kann ichs auch umkehren und mich unsichtbar machen." Der Trick ist, "dass man mit seiner Umgebung schwingt". Ist das die Umschreibung für "dass man ein Handy in der Hand hat"? Mit dem fällt man jedenfalls nicht auf. Da macht sich einer selber unsichtbar, um das, was man leicht übersieht, weil man sich an den Anblick so gewöhnt hat, wieder sichtbar zu machen.
Der Antichrist kommt kurz vor halb sechs
Oh, sein Jesus geht ungefähr eine Minute vor. In seinem zu einer bipolaren Wanduhr umfunktionierten Kruzifix, wo das Kreuz als Stunden- und Christus als Minutenzeiger fungiert, wird Christus nämlich nicht um Punkt zwölf gekreuzigt. Und Gut und Böse sind nicht einmal fünfeinhalb Stunden voneinander entfernt. (Kurz vor halb sechs wird der Christus zum Antichrist. Hängt der Gekreuzigte mit dem Kopf nach unten. Wie bei den Satanisten.) Der Teufel steckt in der Uhrzeit wie der Hamster in der Klopapierrolle. Und ist der Titel ("A. D.") womöglich nicht die Abkürzung für "Anno Domini", steht der (so wie der Minutenzeiger herumtanzt) für "Autistic Disco"? Ein hintergründig irritierendes, originelles Stück, das "nicht als Gag gemeint" ist.

Wie spät ist es? Hm. Das Kreuz ist der Stunden-, Jesus der Minutenzeiger. Wanduhr "A.D." (2022) von Lars Eidinger.
- © JOSEPHINE GASSERDafür ist der Marlboro-Mann auf dem Monitor daneben zweifellos witzig, der auf dem Dach einer Tabakfabrik in Berlin vom Rauch, der aus derselben aufsteigt, beschaulich bewölkt und zugequalmt wird. Ist er ein Raucher, der Eidinger? "Ne." Wäre das Video kein Hochformat, wäre das ein super Bildschirmschoner. Entspannend wie ein Kaminfeuer. Bloß lustiger. Und die Fotos haben mich ohnedies vielfach zum Schmunzeln gebracht. Eidinger: "Für mich sind die völlig humorlos." Kann man ihm glauben, muss man jedoch nicht.

Prousts Zeitmaschine zum Essen funktioniert auch beim Lars Eidinger: Madeleine (die Hüterin der Kindheitserinnerungen).
- © Lars EidingerEine Frage muss ich ihm unbedingt noch stellen: Hat er dazumal behauptet, er sei der beste oder der größte Schauspieler der Welt? "Der Schönste." Der Beste oder Größte zu sein, darum gehe es bei diesem Beruf nicht. Sondern um Glaubwürdigkeit.
Zugegeben, seine Prominenz als Schauspieler verschafft seinen Fotos (und Filmsequenzen, die was von zeitlich gedehnten Fotos haben) eine Aufmerksamkeit, die sie sonst wohl eher nicht hätten. (Sämtliche Timeslots für die neunstündige Vernissage am 9. Februar sind ausgebucht!) Sehenswert sind sie aber allemal. Weil da einer einen Blick fürs vielsagende Detail hat und auf die flüchtigen Momente fokussiert, die man sich nachträglich (wenn das Bild die Zeit angehalten hat) erschauen muss, um sie in ihrer ganzen Dimension zu erfassen.
Selbst eine unscheinbare Madeleine, in Plastik eingeschweißt und haltbar gemacht, fabuliert im Netz eines Autositzes drauflos. Marcel Prousts kleine Zeitmaschine zur oralen Einnahme, die den Esser sogleich in die Kindheit zurückversetzt, erinnert sich eventuell an lange Autofahrten und an ein litaneiartig vorgetragenes "Sind wir schon da?". Ja. Sind wir endlich.