Ihre Erzähltechnik ist durchaus ungewöhnlich. Sie zerknüllt nämlich die Wörter und Sätze anderer und stopft damit ihre eigenen Geschichten aus. Oder vielmehr die Darsteller, in denen sich ihre narrative Fantasie manifestiert. Anders ausgedrückt erschafft die Helga Petrau-Heinzel liebenswerte Figuren aus Zeitungspapier.
Bzw. bestehen nur deren Körper daraus, die sie nachher mit einer Haut aus Japan- oder sonstigem Papier tapeziert. (Befindet sich unter den "Innereien" auch die "Wiener Zeitung"? – "Aber ganz sicher sogar.") Und die Köpfe? Knetmasse. Modelliert zu einem lebendigen, mitunter karikaturhaft überzeichneten, also noch lebendigeren Ausdruck und beseelend koloriert. Und jetzt rahmt ein wahrhaft kongeniales Ambiente diese handfeste Fabulierlust: das Spitzer. Gehört zum Odeontheater und hat sich etwas versteckt in den Innenhof verkrochen.
Undine mag den Durchlauferhitzer

Nein, das ist keine Allegorie der Völlerei, das ist die "Tortenesserin" (2016) von Helga Petrau-Heinzel.
- © Nikolaus KorabDer in Würde gealterte, sprich gereifte hybride Raum mit Bar, Bühne und dem Charme des Abgefuckten ist selber ein sehenswertes Ausstellungsstück. Hat sichtlich viel erlebt, ist ein Zeitzeuge mit Wunden und Narben. Und mit einem Ofen, der – die Stimmung anheizt? Na ja, zumindest für eine heimelige Atmosphäre sorgt. Keine Angst, das Feuer, das ebenfalls auf diese Skulpturen steht (immerhin ihr Fressfeind; Papier, hallo? – die handlicheren Exemplare würde es locker als Fidibus verspeisen), das kann den hageren Intellektuellen, den Bladerinen (dicken Ballerinen) oder der Torte mampfenden Tante seine leidenschaftlichen Gefühle lediglich durchs Ofenfenster gestehen, mit seinen Zungen höchstens die Scheibe sehnsüchtig abschlecken. (Die Flammen werden natürlich artgerecht gefüttert. Mit Holzscheiten.)
Ob sich die kleine Undi (von "Undine") deshalb zum Waschbecken dazugesetzt hat? Einfach zur Sicherheit? Andererseits ist das ihr Element, zieht es sie zum Wasser. Moment: Das Schild am Durchlauferhitzer, den die minderjährige Nixe anhimmelt (und auf den ihr Spielgefährte, ein Vogerl, mit dem Schnabel deutet), das hat eine ziemlich widersprüchliche Botschaft: "Nicht anfeuern, Wasser ist abgelassen!" Eine trockene Kehle hat der Hahn (nein, nicht das Geflügel von der Undi) jedenfalls nicht. Er tropft, ach was: rinnt.
Hm. Befürchtet ihre Schöpferin nicht, dass die Kleine mit den Fischflossen nass wird und sich aufweicht, sobald sich jemand die Hände wäscht? (Das macht man ja heutzutage viel ausgiebiger als früher. Und Papier ist wasserscheu, oder?) Petrau-Heinzel: "So empfindlich ist sie nicht. Und ich glaub, so viele Leute werden diesen Wasserhahn auch nicht betätigen." Stimmt. Schließlich gibts einen Desinfektionsmittelspender beim Eingang.
Nachrichten sind Handarbeit
Gleich in der Auslage: zwei weißhaarige Damen, die sich verdammt ähnlich sehen (und nicht allein, weil sie dieselben Socken an- und fast die gleiche Wattefrisur haben – eine verwelkte Dauerwelle). Symbiotische Schwestern. Nicht zu verwechseln mit siamesischen Zwillingen. Aus einem Papierknäuel (sieht aus wie eines aus Wolle, bloß mit Zeitungspapier, in Streifen geschnitten, als Faden), daraus strickt die Paula die neuesten Nachrichten, komplette Ausgaben einer lachsfarbenen Tageszeitung, den Lesestoff für die andere, für die Henrietta.

Rumpelstilzchen konnte aus Stroh Gold spinnen, wieso sollte man also aus Zeitungspapier keine Nachrichten stricken können? Helga Petrau-Heinzels "Zeitungsstrickerin" (2016) machts's vor.
- © Nikolaus KorabPetrau-Heinzel: "Die sind immer auf dem Laufenden." Ja, sie wissen zum Beispiel, dass ein Buch erschienen ist, in dem sie selber vorkommen. Der Bildband "Helga Petrau-Heinzel: In bester Gesellschaft" (Verlag Bibliothek der Provinz), der die Schau begleitet – oder umgekehrt: den Letztere umgibt und den sie einkreist.
Nikolaus Korab hat sich da mit Empathie und seiner Kamera der Lebensfreude und den Schrullen dieser Geschöpfe genähert, hat ihnen klare, stylische Interieurs gebaut, Umgebungen für sie maßgeschneidert, sie in diesen stimmig inszeniert (oder hat eine kauzige Tafelrunde dramatisch aus der Finsternis auftauchen lassen), Berthold Ecker, Kurator vom Wien Museum, hat eine kluge Einführung geschrieben (und sich die Frage gestellt: Plastiken oder Puppen oder beides?), und die Künstlerin selbst, die fasst die Hintergrundstorys zu den Momenten, die sie mit Hingabe und Witz aus Papier, Modelliermasse und anderen Materialien markant geformt hat, in Worte, die diesmal freilich garantiert nicht zerknüllt werden. (Ein Buchkörper ist bekanntlich mit flachen Blättern gefüllt.)
Die Tafelrunde muss ums Eckige

Einer von Helga Petrau-Heinzels "Theophils" (2016) sinniert auf der klaren, stylischen Bühne, die ihm der Nikolaus Korab gebaut hat.
- © Nikolaus KorabUnd woher weiß ich, dass obige Schwestern über das Buch Bescheid wissen? Von der Henrietta. Die ist grad in die Lektüre einer Rezension vertieft, und auf der Abbildung oben drüber ist das besprochene Druckwerk just dort aufgeschlagen, wo ihre Schwester Paula selbstvergessen strickt. Diese Detailversessenheit, dieser Sinn fürs Tüpferl auf dem i (und für die kandierte Kirsche auf dem Punschkrapferl), macht das Schauen zur vergnüglichen Entdeckungsreise, die Exponate zu pointierten Gustostückerln, an denen man sich nicht sattsehen kann, weil sie die Schaulust immer wieder aufs Neue wecken, den Betrachter, die Betrachterin zu indiskreten Blicken ermutigen.
Jö, die distinguierten "Theophils", Mitglieder einer fiktiven Philosophengang, eines reinen Männervereins, studieren zu dritt und sehr interessiert die Visitenkarte einer Frau! (Von der Helga Petrau-Heinzel.) Ein Gag für feministische Feinspitze? Und bei aller Übersteigerung und Überstilisierung wirken die Gfrießerln so ungemein authentisch, als steckten reale Personen dahinter. Die Wienerin beobachtet die Menschen schlichtweg genau. In der Straßenbahn, im Bus. Und "solche, die ma auffallen, die behalte ich in Erinnerung".
Sechs "auffällige" ältere Herren versammelt sie zu einer Tafelrunde. Auf dem – eckigen – Brett, das hier die Welt bedeutet (auf der Tischplatte): eine einzige Fressorgie. Cremetorten, Schwedenbomben, Punschkrapferln, Rouladen, Kipferln, Golatschen, Schaumrollen, Krapfen und, und, und. Äh, und wo sind die Kuchengabeln? Wobei die Tischgäste sowieso keine großen Esser sind. Einen Schweinsbraten-mit-Semmelknödeln-und-Bier-Bauch sucht man vergebens.
Stricken ist das neue Tantra
Außerdem scheinen sie auf ihren Händen zu sitzen. Sie konnten noch nicht einmal ihre Zylinderhüte abnehmen. Folglich ein platonisches Bacchanal. Ein üppiges Essens-Stillleben. Und dabei spielen die Süßigkeiten alle kulinarischen Stückln. Obwohl sie gestrickt und gehäkelt sind. Allerdings mit einer solchen Sinnlichkeit, echte Kalorien könnten nicht aufreizender sein. Geradezu pornografisch ist dieses Buffet.
Stricken ist eben das neue Tantra. Tantra? Nicht Yoga? Das auch. Und es hilft bei der Konzentration. Beim Denken. Beim Ideen-Stricken. "Das ist so entspannend", schwärmt die fleißige Mehlspeis-Strickerin. "Wenn ich nachdenk über ein Motiv, dann mach ich so nebenbei eine Torte." Nicht zuletzt hat sie die Schaufenster der K. u. K. Hofzuckerbäckerei Demel Anfang des dritten Jahrtausends mit ihrem originell in Szene gesetzten Marzipan versüßt. Marzipan, wohlgemerkt. Nicht Wolle und Watte. Dennoch nix, wovon man abbeißen hätte können, weil: "Wenn ich so was mach, kann mans dann nicht mehr essen."

Diese Herren, die Helga Petrau-Heinzel zu ihrer Tafelrunde eingeladen hat, sind entweder echte Gentlemen oder satt. (Oder das ist die Ruhe vor der Fressorgie.)
- © Nikolaus KorabUnd das männliche Publikum am Tisch? Schaut ohnedies nur. Lauter Spanner? Eher Bewunderer. Gentlemen. Und einer ist mehr ein Fleischeslüstling als ein Naschkater. Der starrt wie hypnotisiert auf eine Extrawurstsemmel, die ihn mit ihren gehäkelten Wurstblattln verführt, mit ihren sexy rosa Rundungen, die sich kokett zwischen den Semmelhälften herausdrängen. Einem andern hat Petrau-Heinzel hingegen ein keusches Frühstücksei serviert, während ein dritter selig eingenickt ist. Dem ist womöglich plötzlich eingefallen, dass er in einer früheren Inszenierung Zuhörer war. Eine Lesung von Paula und Henrietta besucht hat. Von der Nachrichtenstrickerin und der Nachrichtensprecherin.
Gib der Ballerina Zucker!

Die Torte ist rund, die Ballerina ebenso (die hat sogar noch MEHR Rundungen), und beide heißen Pawlowa. (Und Helga Petrau-Heinzel huldigt ihnen.)
- © Nikolaus KorabDie Frauen sind weniger zurückhaltend, sind keine Krepierln. Sind oralere Charaktere. Genüsslich mästet die schlanke Künstlerin die russische Balletteuse Anna Pawlowa mit dem nach dieser benannten Dessert und treibt sie daraufhin oben auf der besagten Baisertorte auf die Spitze (ihrer Ballettschuhe), lässt die füllige Ballerina der Schwerkraft graziös davontanzen, total high von der weißen Droge (Kokain? Zucker!). Nicht, dass die Petrau-Heinzel eine Sadistin wäre (okay, eventuell eine klitzekleine). Oder die originale Pawlowa an Diabetes gestorben wäre. (1931 mit erst 49 Jahren.) Die Todesursache war eine Lungenentzündung.
Das starke Geschlecht sind da eindeutig die Frauen. Das Ewig-Weibliche zieht sie hinan, die Männer. Hinan: hinauf. Ein pompöser und entsprechend dominanter weißer Schwan (weiße Haare und ebensolches neckisches Tutu) stemmt barbusig seinen dürren Prinzen hoch. Eine Hebefigur, die definitiv nicht aus "Schwanensee" stammt. Sondern? Aus dem Kamasutra 2.0? Dem für Junggebliebene? Und wie nennt man diese Position überhaupt? Missionarsstellung? (Mann oben, Frau unten.) I wo: Emanzipation!
Herrlich: die adipösen, schmuckbehangenen Venusfigurinen (mei, so niedliche Ohrringerln!), wuchtige Schwestern der Willendorferin aus dem Naturhistorischen Museum, die sich köstlich mit ihrem eigenen Fett amüsieren und dem Bodyshaming frech die Zunge und die Titten zeigen. Und die, die sie gemacht hat, freut sich unverkennbar mit ihnen mit. Lacht mit ihnen und maximal ein bisserl über sie.
Stolperfalle mit Pullover
He, was ist süßer als ein Stück Torte? Ein Chihuahua. Und was ist noch süßer? Vier Chihuahuas. Einen hat Petrau-Heinzel gar mit einem selbstgestrickten Pullover verhätschelt. Prompt wurde sie einmal von einer Ausstellungsbesucherin gefragt, ob man auch bloß den Pullover kaufen könne. (Die wollte den für den eigenen Miniaturhund.) Und die Antwort? "Tut ma leid, dann ist ihm kalt." Groß oder klein genug wäre das Oberteil vermutlich gewesen. (Oder heißt das bei einem Vierbeiner "Vorderteil"?) "Es gibt wirklich so kleine Chihuahuas. Das sind die teuren. Die normalen sind schon ein bissl größer." Und sie hat halt nicht die billigen aus Zeitungspapier kopiert. Die ganz teuren ("die passen in ein großes Cocktailglas hinein") jedoch genauso wenig.

Oh, Chihuahua! Dabei mag sie diese Minihunde gar nicht, die Helga Petrau-Heinzel. (So sieht also Antipathie aus.)
- © Nikolaus KorabHat sie eigentlich selber so eine "Stolperfalle" daheim, so einen Schoß-Enkelchen-Ersatz, so ein Accessoire an der Leine? Ist sie ein Frauerl? "Nein, ich mag keine Chihuahuas." Im Ernst? Und dann macht sie ihnen so ein treuherziges Gschau, dass sogar ich die Wauzis beinah putzig gefunden hätte? (Und üblicherweise bin ich immun gegens Kindchenschema.)
Das Gesicht zerknittert spontan

Das Lächeln des "Altweibersommers" (2016), eingefangen von Helga Petrau-Heinzel.
- © Nikolaus KorabNicht aus Wut hätte sie welche angefertigt, weil sie immer kläffen würden, "aber aus Antipathie". Und sie sind dermaßen präsent, die könnten theoretisch jederzeit mit dem Schwanz wedeln. Der fünfte Chihuahua tut das eh. Der läuft zudem frei herum, ist ungewöhnlich stark behaart und will dauernd gestreichelt werden. Gut, das ist kein Chihuahua. Das ist die Rosi. Ein Dackelmix. Für den die Petrau-Heinzel nicht verantwortlich zeichnet. Der gehört sozusagen zum Lebend-Inventar.
Und wie haben sich die drei "Charakterköpfe" vom Franz Xaver Messerschmidt hierher verirrt? Gar nicht. Das sind gewissermaßen Übersetzungen der berühmten männlichen Grimassen ins Petrau-Heinzelsche. Wenngleich diese Selbstporträts mit entgleisten Zügen, für die die einstige Frohner-Schülerin vor dem Spiegel die physiognomische Sau rausgelassen hat (2005 war das), vielleicht keine "typischen" Werke sind. Gesichter mit einer präzise wiedergegebenen extremen Mimik, die hart im Nehmen sind, weil Petrau-Heinzel Holzstaub mit Leim und Tapetenkleister zu einer schier unverwüstlichen Masse zusammengeknetet hat. ("Die können runterfallen, da bricht nix.")
Dafür machen die Büsten von Seniorinnen, die anscheinend mit dem Älterwerden und Zerknittern im Reinen sind, eine absolut alltagstaugliche Miene: sie lächeln zufrieden, abgeklärt. Irgendwie ansteckend. Wieder Porträts? Hat da etwa wer Modell geschmunzelt? Bestenfalls im Kopf von der Petrau-Heinzel. "Dann kommen sie in meinen Händen zum Vorschein." Skizzen macht sie übrigens vorher nie. Die sind angeblich der Spontaneität abträglich.
Sind Geburtstagstorten Kindesmisshandlung?

Mütterlicher Zeigefinger statt Geburtstagskerzen: Helga Petrau-Heinzel beschert einem Mäderl ein Tortentrauma.
- © Nikolaus Korab"Meine Figuren altern quasi mit mir", meint sie. Ist der "Altweibersommer", zu dem diese erfahrenen Mona Lisas, diese Oma Lisas, nebst wolligen BHs gehören, demnach was Persönliches, was Selbstironisches? "Ich trag noch keine Busenwärmer, sag ma so."
Nicht alles ist lustig. Wer zum "Ausguck" emporsteigt, der über eine metallene Wendeltreppe erreichbar ist, wird Zeuge der traumatischen Begegnung eines Geburtstagskinds mit seiner Torte. Das blondgelockte Mäderl mit den traurigen Augen tut einem direkt leid. Keine Kerzen hat es zum Ausblasen, stattdessen wird es vom manikürten Zeigefinger der Mama eingeschüchtert, der mit dem Rest der Hand die Torte ziert und die Kleine mit dem spitz zugefeilten, lackierten Nagel anvisiert: "Für dich, mein Liebling!"
Wie die zwei "Ich-Figuren" (unglaublich lebensnahe, sitzende Ganzkörper-Selbstbildnisse im Nippesformat), von denen die eine lacht und die andre strenger dreinblickt, ist diese hinreißend menschliche Kunst beides: heiter und seriös. Humor, der ernst zu nehmen ist.