Eine schöne Welt ohne Menschen war das Sperrgebiet von Tschernobyl bis vor 13 Tagen, da dort 400 verschiedene Tierarten nach der unmittelbaren Zerstörung durch den Reaktorunfall 1986 ohne menschlichen Eingriff existierten. Speziell die wieder ausgewilderten asiatisch-mongolischen Urpferde (Przewalski Horse) fanden trotz nach wie vor radioaktiver Verseuchung ideale Bedingungen.

Die Exkursionen in die 30 Kilometer-Sperrzone 2014 und 2021 durch die russisch-österreichische Künstlerin Anna Jermolaewa, die 1989 aus ihrer Heimatstadt St. Petersburg (damals Leningrad) ausgebürgert wurde, da sie einer kritischen Ost-Fluxus-Künstlergruppe angehörte, war als politisches Kunstprojekt erstmals 2015 auf der Biennale von Kiew zu sehen.

Aquarelle aus der Multimedia-Installation ANNA JERMOLAEWA. Chernobyl Safari, 2014/21. - © Anna Jermolaewa
Aquarelle aus der Multimedia-Installation ANNA JERMOLAEWA. Chernobyl Safari, 2014/21. - © Anna Jermolaewa

Als nun durch die Kriegsgeschichte aktualisierte Variante ist "Tschernobyl Safari" bereits eine Ausstellung von Direktorin Lilli Hollein, die mit der Wahl dieser Künstlerin auch einen wichtigen Akzent setzt in Sachen Umgang großer Museen mit russischen Künstlerinnen.

Absurdität des Daseins

Jermolaewa, deren Großtante in der Stalinzeit im Gulag umkam, hat bereits kurz nach 2010 beim Nachspüren ihrer Ahnin die neuen Straflager Wladimir Putins ganz nahe den verfallenen Holzarchitekturen seines mörderischen Vorgängers entdeckt. Damals waren die Künstlerinnen der Gruppe Pussy Riot dort inhaftiert. Daher ist die zweite Exkursion in die sowjetische Vergangenheit kein Zufall.

Für Michail Gorbatschow war der Reaktorunfall mit eine der Ursachen, eine neue Ära mit dem Westen einzuläuten, doch Glasnost und Perestroika haben die Ausweisung Jermolaewas nicht verhindert. Die Absurdität, Ambiguität, aller Vorgänge in unserem Dasein ist daher eine der entscheidenden Grundstrukturen im Werk der Künstlerin, wobei subversiver Humor nie zu kurz kommen darf.

Nicht nur für ihre politische Haltung bekam Jermolaewa den Outstanding Artists Award, ihre Werke diskutieren kritisch-ironisch neue Medien und ihre Mythen, aber auch das Schöne im Schrecklichen. Aus der nuklearen Katastrophe eine (vielleicht nach Joseph Beuys) heilende Wirkung zu gewinnen, ist ein sichtbares Ergebnis dieses nach wie vor offenen Projekts.

Im Film sieht man den beteiligten Naturforscher Nikolai in einen Apfel beißen, er steht neben einem fruchtbeladenen Baum. Die drei installierten Wildkameras, mit denen in der Schau bis zum 28.1. 2022 (durch ein Foto sichtbar) aufgenommen wurde, sind zwar noch vor Ort, die Speicherkarten können allerdings derzeit nicht abgeholt werden. Tschernobyl ist nun militärische Zone und dabei ist zu befürchten, dass die Radioaktivität zunimmt durch aufgewirbelten Erdstaub, was für Tiere und Pflanzen neue Probleme bringt.

Die Exkursionsgruppe hatte sich mit Geigerzählern und durch Kleidung bedeckter Haut immer nur auf weniger verseuchtem Grund bewegt, im Film sind auch die verlassenen Wohngebiete und Rudel wilder Hunde zu sehen, neben Hirschen, Wildschweinen, Eulen, die Jermolaewa neben Film und Foto auch in Aquarellen festgehalten hat. Dabei geht es aber nicht um die Dokumentation des vom Menschen verlassenen Gebiets, das neues wildes Leben ermöglicht, sondern auch um unsere Mythen, die Bären, Wölfe, Luchse, Bisons und vor allem mutierte Kühe mit zwei Köpfen in diese Zone hineinfantasieren.

Die neuen Märchenstunden zeigen sich in den Aquarellen. Mutationen gab es anfangs vereinzelt, doch bis vor kurzem wirkt die Tierpopulation angepasst gesund, wobei Untersuchungen dazu miteinbezogen sind. Das Projekt bleibt offen bis auf die Einsicht: Die Natur ist besser dran ohne Menschen. Hoffentlich wird es hier wieder still nach Abzug der russischen Truppen. So trägt der Beitrag Jermolaewas, eröffnet am 111. Frauentag, als Teil der "Foto Wien 2022" ganz entscheidend zu aktuellen Debatten bei, neben "Female Landscape" in der VBKÖ, neben Annegret Soltaus Beitrag in der Zentrale im Atelier Augarten, sowie Positionen von Ona B. über Sissa Michaeli bis zu Heliane Wiesauer-Reiterer.