Alles klar. Besonders die Formen. Die Objekte von Iman Issa sprechen in dieser sehr übersichtlichen Ausstellung jedenfalls eine deutliche Sprache. Kommen ohne Umschweife zum Punkt. Okay, eines hat eine etwas längere Leitung (aus Messing), leitet den Blick vom Sockel weg in den Raum hinein, zuerst steil nach oben und schließlich zu einer Kreisscheibe um, die wie ein Rad daneben auf dem Boden steht. Aber selbst der Umweg ist auf seine Weise ziemlich zielstrebig.
Man darf halt nur nicht das Kleingedruckte lesen. Die einzelnen Begleittexte. Dann ist man nämlich plötzlich total verwirrt. Kalkstein soll das sein? Nie im Leben! Das ist Messing, hallo? Und wie ein Gedenkskarabäus aus der 18. Dynastie schaut das ebenso wenig aus. Am ehesten noch ist die runde Scheibe eine Gedenkmünze. (Eine ungeprägte. Die sich an nichts erinnern kann. Oder für alles offen ist.) Oder der Abglanz der Sonne, die der ägyptische Sonnengott Ra in Darstellungen auf seinem Haupt balanciert hat. Was man laut Beschriftung sehen soll, ist eindeutig was anderes als das, was man tatsächlich sieht.
Konzeptuelle Steine können fliegen

Objekt mit langer Leitung? In Iman Issas "Heritage Studies #23" (2016) befindet sich die Skulptur nicht nur AUF dem Sockel.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Galerie Elisabeth & Klaus ThomanWas hat doch grad erst jemand auf Facebook gepostet? "Wer sich auskennt, hat einfach zu wenig Informationen." (Oder so.) Und genauso geht es einem derzeit in der Galerie Elisabeth & Klaus Thoman. Bei Iman Issa, die 1979 in Kairo geboren wurde und 2020 in Wien an der Akademie der Bildenden Künste Monica Bonvicini als Professorin für performative Bildhauerei nachgefolgt ist, sind die Dinge nun einmal viel komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Na ja, wahrscheinlich weil sie eine konzeptuelle Bildhauerin ist. Bei der spielt sich schon per definitionem mehr im Kopf ab als in den Händen.
Zwei elegant geschwungene "Flügel" aus Holz: ein stilisierter Vogel? (Das stilvolle Opus, das auf dem dreibeinigen Stahlhocker geradezu kurz vor dem Abheben ist, ähnelt wirklich ein bisschen den konzentrierten Reduktionen eines Constantin Brancusi.) Nein, kein Vogel, angeblich ein Pharao. (Ahmose. Der Vereiniger des Reichs.) Waren die ägyptischen Könige nicht eh mit dem Horus im Bunde, dem Falkengott, waren dessen irdische Verkörperung? Und bekanntlich können Falken fliegen. Wurscht. Eine Statue aus Quarzit ist das trotzdem keine, wie frech behauptet wird.
Woher die Widersprüche zwischen dem jeweiligen Exponat und der Beschreibung desselben kommen? Daher, dass eigentlich ein komplett anderes beschrieben wird. Die Inspirationsquelle. Bzw. bewegt man sich durch eine kühle museale Installation, in der die Bedeutung offenbar zwischen dem "Beipacktext" an der Wand und der manifestierten skulpturalen Idee oszilliert. Seit 2015 befasst sich Issa mit ihren "Heritage Studies", studiert das kulturelle Erbe der Menschheit, recherchiert in Sammlungen, lässt sich von den alten Stücken zu etwas Neuem anregen. Übersetzt das Verstaubte (nicht, dass die Museen kein Reinigungspersonal beschäftigen würden) in eine modernere Formensprache, in die Gegenwart.
Gesichter werden überbewertet

Frei nach der Zikkurat in Ur: halbe "Torte" von Iman Issa ("Heritage Studies #40", 2022).
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Galerie Elisabeth & Klaus Thoman"Heritage Studies #40": eine siebenstöckige weiße Torte. Marschiert man freilich um sie herum: Aha, die ist radikal halbiert. Vorne in 3D, hinten flach. An der Rückseite wirft sie obendrein einen Schatten aus oxidiertem Kupfer, schlagen ihre plastischen Rundungen gleich zweimal in eine Fläche um. Das, worauf sich die aufgetürmte "Torte" bezieht, ist zwar eckig (konkret: viereckig – zumindest das Blatt Papier mit der Darstellung einer Zikkurat in Mesopotamien, die wiederum noch mehr Ecken hat), über Stufen verfügt dieser Tempelturm des sumerischen Mondgottes Nanna in Ur allerdings ebenfalls.
Dagegen könnte sich die "Stolperfalle" ("Heritage Studies #18"), ein Kupferdraht, der sich sanft über dem Boden biegt und dabei die Spannung hält, kaum weiter von der Keramikplatte entfernen, die in Granada, in einem Palast aus dem 12. Jahrhundert, gefunden worden ist und auf der ein heiliger Schrein abgebildet sein soll. Noch dazu "painted in green, white, and blue". Statt einer bunten Unterglasurmalerei: eine minimalistische Linie aus Metall, bei der man aufpassen muss, dass man nicht versehentlich draufsteigt.
Echos der Vergangenheit, die auch tadellos für sich allein funktionieren, mit ihrer schlichten, schnörkellosen Ästhetik in perfekter, cleaner Ausführung überzeugen können. Stellvertreter mit Eigenleben eben. Obwohl der Titel der Schau ("Proxies, with a Life of Their Own") streng genommen von einer anderen Werkgruppe stammt. Die zwei Exemplare, die aus dieser gezeigt werden, fügen sich harmonisch in den Rest ein. Haben gleichermaßen eine Doppelidentität. Zumal es sich um lauter Selbstporträts als jemand anderer handelt. Und wenngleich keinerlei Physiognomie oder Mimik vorhanden ist, kann man den Köpfen aus dem 3D-Drucker, die zur selben Eiform "verwesentlicht" worden sind, eine individuelle Persönlichkeit gewiss nicht absprechen.

Achtung, nicht drüberstolpern! Wie das mit einer bemalten Fliese zusammenhängt, weiß ich zwar nicht, aber auch dieser Kupferdraht ist Teil von Iman Issas "Heritage Studies" (#18, 2016).
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Galerie Elisabeth & Klaus ThomanMit einem markanten Eingriff wird das Allgemeine, das Gleiche, zum Besonderen, zur Einzigartigkeit, abgewandelt. Die Identifikation mit Christa Wolf, der womöglich bedeutendsten Schriftstellerin der DDR (bekanntestes Werk: "Der geteilte Himmel"): Ein gespaltener Schädel, weiß, die Hälften wurden alternativ wiedervereinigt. (Die eine ist jetzt andersrum, steht kopf.) Als Philosoph Ananda K. Coomaraswamy (schwarzes "Ei") klappt Iman Issa sozusagen das Kinnladl runter respektive das linke untere Gesichtsdrittel zur Seite weg.
Der Ikonoklasmus hat die Masern
Das "Book of Facts", das einen gleich beim Eingang der Galerie begrüßt, aber nicht einfallslos auf der Theke aufliegt, sondern installativ inszeniert ist (mit Lesepult und Hocker), ist übrigens nicht der Katalog zur Ausstellung. Auf jeden Fall nicht zu dieser, vielmehr zu einer, die überhaupt nicht existiert oder lediglich in diesem Buch existent ist, bloße Fiktion ist. Die enthaltenen "Abbildungen" sind außerdem im Grunde keine, sind quasi Figuren ("Fig. 1" bis "Fig. 78") ohne Figur.

Kopfgeburt: So sieht sich Iman Issa selbst. Bzw. hat sie sich da als Philosoph Ananda K. Coomaraswamy porträtiert (2022).
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Galerie Elisabeth & Klaus ThomanErneut beruft sich die Künstlerin auf Gesehenes, Gefundenes, diesmal auf Illustrationen und Fotografien (aus Druckwerken), die sie zu einer Art konzeptuellem Ikonoklasmus, zu einem analytisch minimalistischen Pointillismus abstrahiert. In der weißen Leere, umrandet von einer schwarzen Linie in den korrekten Proportionen der visuellen Vorlage, fokussiert sie mit roten Punkterln auf einzelne Details, markiert etwa die Position eines Turbans oder einer Schulter. Zwei Punkte mit der lapidaren Anmerkung "Black hair" und "Mustache" reichen ihr für das Phantombild eines nicht namentlich genannten Logikers, "Sky", "Horizon" und "Desert" für eine vermeintlich friedliche Landschaft, in der laut den Erläuterungen auf der gegenüberliegenden Buchseite "landmines were first used as a major weapon in war".
Mit Tatsachen kann das "Book of Facts" also wirklich aufwarten (und nicht zu knapp), auch wenn Iman Issa aus einem wesentlichen Teil der Geschichte ein Mysterium macht (oder ist er gar nicht so wesentlich, ist etwas anderes des Pudels Kern?). Zwei Sanskrit-Gedichte über eine verfluchte Stadt mit unglaublicher Pechsträhne werden zum Beispiel zu einem prosaischen "Poem 1" und "Poem 2" (gut, wer könnte die Originalverse entziffern; wer kann schon Sanskrit?), wohingegen man das Cover von "Indian Currency and Finance" zwar nicht anhand der Eckdaten "White color", "Black text" und "Purple color" zu identifizieren vermag, doch immerhin kann man den Verfasser googeln: Oh, John Maynard Keynes.
Lebende Skulptur mit zehn Buchstaben: Betrachter
Der blätternde Besucher wird selber zur lebenden Skulptur, wenn er auf der angebotenen Sitzgelegenheit, die mehr ein Sockel ist als ein Hocker, Platz nimmt und mit seiner Vorstellungskraft das Faktenbuch vervollständigt, Dschingis Khan im Gespräch mit einem Gelehrten visualisiert (Fig. 1) oder sich vom singulären roten Punkt in Trance versetzen lässt und, der Anweisung "Black color" gehorchend, die gesamte Fläche von Figur 73 in Gedanken mit einem monochromen Schwarz ausmalt, um vor dem geistigen Auge das Schwarzlicht im "Rose Garden of Mystery" zu erblicken.
Generell ist der Betrachter integraler Bestandteil der Ausstellung, muss fleißig mitarbeiten, widersprüchliche Informationen versöhnen. Und er muss die Klangskulptur aktivieren, sich den Kopfhörer aufsetzen, der auf einem weiteren Sockel um seine Aufmerksamkeit buhlt und aus dem eine Computerstimme brabbelt. Die Maschine imitiert den Menschen mittels einer Text-to-Speech-Software. Trägt den biografischen Text "The Revolutionary" (2010) vor und erzählt allein dadurch bereits von der digitalen Revolution.

Hocker oder Sockel? Links wird dem Besucher jedenfalls ein Sitzplatz angeboten. Wer sich hinsetzt, wird - zur lebenden Skulptur? Oder einfach zum Leser. Auf dem Pult liegt nämlich Iman Issas "Book of Facts". Und die Kopfhörer rechts? Mit denen kann man einer Computerstimme lauschen, die einem was vorliest. ("The Revolutionary", 2010.)
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Galerie Elisabeth & Klaus ThomanAm Ende der sechs Minuten war ich freilich ein bissl frustriert. Nein, nicht weil nie enthüllt wird, von welchem Revolutionär denn die Rede ist, kein einziger Name fällt, sondern weil ich jetzt echt gern erfahren hätte, warum der Typ ausgerechnet Landwirtschaft studiert hat, wiewohl er in der Stadt aufgewachsen ist und Journalist werden hat wollen. Die diesbezügliche Frage seiner Mutter beantwortet er (und das ist die unbefriedigende Schlusspointe) nämlich mit nichts als einem "entwaffnenden Lächeln".
Eine intellektuell sinnliche Kunst, die Geheimnisse bewahren kann, nicht alles ausplaudert. Und an der man sich durchaus die Zähne ausbeißen kann. Herausfordernd. (Zum Glück muss man nicht immer alles verstehen.)