Sie sind unter uns. Wir starren sie außerdem ständig an, und trotzdem sehen wir sie nicht, weil sie für uns praktisch unsichtbar sind. Obwohl wir manche von ihnen noch dazu dauernd streicheln. Die Aliens? Die vielleicht auch, keine Ahnung. Aber ob wir auf denen wie besessen herumwischen? (Das würde ich eher bezweifeln.) Die Rede ist jedenfalls von den allgegenwärtigen Monitoren. Die Bilder und sonstigen Daten, die sie uns zeigen, verstellen uns nämlich die Sicht auf das jeweilige Display selbst.
Der Günther Selichar, der sich seit vielen Jahren und unter Zuhilfenahme des fortschrittlichsten Equipments konsequent mit den technischen Aspekten hinter den medialen Bildern befasst ("Man ist von den Inhalten so dominiert, dass man nicht auf das Medium durchblickt."), der hat den Durchblick. Der schaut nicht bloß, der sieht bereits und macht den Betrachter ebenfalls sehend.
Vor dem Gelb muss man sich nimmer fürchten

Farblich sortierte Pixel: "Who's Afraid of Blue, Red and Green?" von Günther Selichar.
- © Günther Selichar, Bildrecht, Wien 2022In der artmark galerie hängen seine hochauflösenden Fotos von den Fenstern zur Welt und zum globalen Dorf (zum Internet), nur dass diese Fenster ausnahmsweise keine Aussichten gewähren, sondern vielmehr Einblicke: in den RGB-Farbraum, in das Universum mit den roten, grünen und blauen Lichtern. Der fotografiert hier nichts als Monitore? Das mag sich zunächst trocken anhören, doch erstens ist Licht (Selichar: "A Monitor is a Leuchtkörper") nun einmal nicht feucht, und zweitens gibts noch die Flüssigkristallfernseher, oder? (Flüssig!)
"Whos Afraid of Red, Yellow and Blue?" (Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau?), hat Barnett Newman in den 1960er Jahren das Kunstpublikum gefragt. Der stammte freilich aus einem anderen, einem parallelen Universum. Aus dem der Malerei. Dort benötigt man theoretisch nicht mehr als obige drei Farben auf der Palette und kann sich aus denen die restlichen selber zusammenmischen. (Okay, ein bissl Weiß zum Aufhellen könnte ebenso nicht schaden.) Nichtsdestoweniger hat der abstrakte Expressionist und Farbfeldmaler die Primärfarben in seiner Serie rein und unverfälscht aufgetragen.
Beim Selichar braucht sich jetzt zumindest vorm Gelb keiner mehr zu fürchten: "I habs durch Grün ersetzt." Und er hat die mittlerweile musealisierte und von einem Besucher erstochene Frage (bzw. wurde lediglich deren Materialisierung auf Leinwand aufgeschlitzt) kurzerhand umformuliert: "Whos Afraid of Blue, Red and Green?" In seinem Dreiteiler (auf Gscheit: Triptychon) sind die entsprechenden drei Farben, einzeln eingerahmt vom Monitorgehäuse, superscharf und super-, ach: -sexy? Nein, supermonochrom. Ein digitales Erzeugnis? Oder Photoshop? Falsch. Zu 100 Prozent dokumentarisch. Nachdem eine Software die Grundfarben der additiven Farbsynthese, der Lichtmischung, feinsäuberlich auseinanderdividiert hat, allein die blauen, die roten, die grünen Pixel aufleuchten hat lassen.
Der Bildschirm ist nicht tot, er ist nur kalt
Der in Wien lebende gebürtige Linzer (Jahrgang 1960) erinnert sich da an eine Unterhaltung, die er einmal belauscht hat. Ein Paar steht vor besagtem Triptychon, plötzlich schüttelt sie skeptisch den Kopf und meint: "Aber diese Rahmen passen überhaupt ned dazua." Also das mit abfotografierte originalgraue Gehäuse. Stimmt, man sieht kein Logo, keinen etwaigen Einschaltknopf. Ein verzeihlicher Lapsus folglich.

Ikonisch schwarz (da gab's doch einmal so ein Quadrat): ausgeschalteter Bildschirm, hochauflösend fotografiert von Günther Selichar. Aus der Serie "Screens, cold", C-Print auf Alucobond, 125 x 200 cm, Edition: 1.
- © Günther Selichar, Bildrecht, Wien 2022, Foto: Christian SchepeIn all seinen Seinszuständen (ein, aus, Standby) wird "Bildschirm, der" studiert. Ausgeschaltet, dunkel, macht er mit seiner ikonischen Strenge und Schwärze dem "Schwarzen Quadrat" von Kasimir Malewitsch Konkurrenz, diesem Nullpunkt der Malerei, dieser Zeitenwende. Während man sich in der Finsternis spiegelt, modelliert sich der hellgraue Rahmen illusionistisch heraus, erhebt sich von der Fläche in die dritte Dimension. (Ein Flatscreen oder genau genommen ein Flachbild mit 3D-Effekt.)
Das Porträt dieses "cold Screens" (Selichar: "Das kalte Interface verschwindet in dem Moment, wo es eingeschaltet ist und der Inhalt in den Vordergrund drängt.") ist dabei dermaßen detailliert, dass sich quasi jede "Pore" unter der glossigen Oberfläche abzeichnet sprich: jeder Bildpunkt respektive das feine Raster, das das Schwarz, das in Wahrheit eben kein homogenes Feld ist, insgeheim strukturiert. Diese Dokumentarbilder sind so übertrieben fotorealistisch, so hyperrealistisch ("Ich arbeite sehr hart daran, die Dinge in bestmöglicher Form umzusetzen."), dass sie schon wieder abstrakt werden, sich die Gegenstände mit der geometrischen Abstraktion verbünden.

Nein, kein Siebdruck. Ein Röhrenfernseher im Standby-Modus, gesehen von einer Wärmebildkamera und Günther Selichar (2003/2004).
- © Günther Selichar, Bildrecht, Wien 2022Mit einem Trick ist es dem Künstler, der ursprünglich Kunstgeschichte und Archäologie studiert hat, sogar gelungen, den Standby-Modus zu visualisieren, diesen Zustand zwischen dem Ein und dem Aus, ohne den kleinen Unterschied ins Spiel bringen zu müssen (das rot leuchtende Lamperl, das das einzige ist, woran der Laie erkennt, dass sich sein Fernsehapparat nicht erkältet hat, Tschuldigung: "kalt" ist, sondern in Bereitschaft). Wie er das hingekriegt hat, der Selichar? Mit einer Wärmebildkamera. Und einem Röhrenfernseher. (So einen verwende ich heute noch als Heizgerät. Und 2003/2004, als die "Standby"-Serie entstanden ist, war der durchaus noch gängig.) Mit ihrer plakativen Farbigkeit und Siebdruck-Ästhetik auf der einen Seite und kontemplativen Reduktion auf der andern befinden sich diese Inkjet-Prints selber in einer Art Zwischenreich (stilistisch): zwischen Pop-Art und Mark Rothko.
Er kam, sah und siebte
Das Oeuvre dieses Fotografen (wobei er sich selber gar nicht als solchen definiert, wenigstens nicht als einen klassischen, mehr als konzeptuellen Künstler, der halt fotografiert) ist eindeutig mehrsprachig. Der Ausstellungstitel beispielsweise ist ein Zitat aus der spanischen Abteilung der Weltliteratur: aus dem "Don Quijote" von Miguel de Cervantes. Na gut, nur ein Wort: "STACCIO." In Großbuchstaben.

Noch was zum Lesen: "Observing Systems" (Günther Selichar hat das Zitat von Heinz von Foerster abgetippt und stark vergrößert).
- © artmark galerie, 2022Klingt allerdings nicht besonders spanisch. Oder als würde es "Windmühlen" heißen. Vermutlich weil es Italienisch ist. Eine alte Bezeichnung für "Sieb", für dieses Werkzeug zum Separieren des Groben vom Feinen oder des Festen vom Flüssigen. (Zu den Windmühlen sagt man in Spanien übrigens "molinos de viento".) Und diese sieben lateinischen Majuskeln wiederum sind ihrerseits aus einem längeren Satz gleichsam herausgefiltert worden, der da – ins Deutsche übersetzt – lautet: "Rechtschaffen blind muss der sein, der nicht durch ein Sieb schauen kann."
"Im Grunde is a Monitor nix anderes als a Sieb", erläutert Selichar, der sich ja mehr für die (technischen) Bedingungen interessiert, unter denen Bilder erzeugt werden, als für das, was Letztere inhaltlich transportieren. "Was bleibt auf dem Weg zu uns auf der Strecke?"

Günther Selichars "Relikt" aus der Serie "No Media Beyond This Point". Aus der Ferne Deutsch, aus der Nähe die internationale Sprache der Pixel. (Ink-jet-Direktdruck auf Acrylglas / 90 x 144 cm, Edition: 1.2020-22.)
- © Günther Selichar, Bildrecht, Wien 2022Auch andere Botschaften (neben "STACCIO"), die die Wahrnehmung problematisieren, klären sich aus einem nebulosen "Grau". "OBSERVING SYSTEMS" etwa (nach Heinz von Foerster, dem Kybernetiker, Philosophen und Professor für Biophysik, der wusste, dass eine objektive Beobachtung schlichtweg nicht existiert). Und was hat es mit dem "RELIKT" auf sich? Relikt, das: "etwas, was aus einer zurückliegenden Zeit übrig geblieben ist; Überrest, Überbleibsel" (Quelle: Online-Duden). "Was ist es, was wir sehen? Letztlich ein Überbleibsel dessen, was irgendjemand irgendwo unter anderen Bedingungen beobachtet hat." (Quelle: Selichar. Offline.)
Je näher man den Begriffen aber kommt, desto mehr "erblindet" man, desto weniger kann man lesen. Wegen dem "gesiebten" Blick, der alles verpixelt. Dafür ist man sozusagen aus dem grauen Kansas nach Oz entrückt worden. Hat ein regelmäßiges Pixelmuster vor sich, ein buntes Allover aus den drei primären Lichtfarben. Die Makroaufnahme einer winzigen weißen Schrift vor grauem Hintergrund enthüllt das RGB-System des Computerbildschirms. Die "Zellen" des medialen Bildes in ca. 50-facher Vergrößerung.

Derrida, flankiert von den Primärfarben der additiven Farbmischung, die Günther Selichar in einem Monitor gefunden hat.
- © artmark galerie, 2022Mit freiem Auge könnte man das definitiv nicht sehen. "Doch." Wieso? Wie viele Dioptrien hat er denn leicht, der Selichar? Aha, 19. Alles klar. Wer so kurzsichtig ist, braucht nicht bloß keine Lupe mehr, der hat nicht einmal ein Mikroskop nötig. Der muss nichts weiter als seine Brille abnehmen. "Mei Frau sagt immer: Du machst nur solche Arbeiten, weil du so schlecht siehst." Oh, ich hab ihn missverstanden: Nicht 19 Dioptrien, "so neun, zehn"! (Hab ich ebenfalls. In Oz bin ich dennoch nicht gelandet. Dabei bin ich in meinen Laptop geradezu hineingeköpfelt.)
Alles hat ein Ende – und die Sackgasse sowieso
Selichars Hybriden, bei denen es sich gleichzeitig um fotografische Dokumente handelt, die der Realität kompromisslos verpflichtet sind, und um abstrakte Kunst, muss man einfach live erleben. Man muss selber ausprobieren, wann der lesbare Text überraschend in "bedeutungslose" Buntheit umschlägt, die, sobald man wieder ein paar Schritte zurück macht, an irgendeinem Punkt erneut ergraut, zur unbunten Monochromie versumpft, die einem auf Deutsch, Englisch, Italienisch oder Französisch etwas mitzuteilen hat. (Andererseits ist "DIFFÉRANCE" nicht Französisch, sondern eine Schöpfung von Jacques Derrida. Ein absichtlicher Schreibfehler – A statt E –, der witzigerweise keinerlei Einfluss auf die Aussprache hat.)

Näher geht's nimmer: Pixel am Ende der Sackgasse. (Aus Günther Selichars "Cul-de-Sac"-Serie, Ink-jet-Direktdruck auf Acrylglas / 90,7 x 121 cm, Edition: 1. 2019-22.)
- © Günther Selichar, Bildrecht, Wien 2022Und dieses Wahnsinnsblau am Ende der Sackgasse (oder das unglaublich saftige, frühlingsfrische Grün) ist sowieso nicht reproduzierbar. Sackgasse? Ja. Weil es in die Richtung anscheinend nimmer weitergeht. Weil der Selichar, der immer tiefer in den Kosmos der Pixel eingedrungen ist wie Alice ins Wunderland, mit seiner neuen Werkreihe "Cul-de-Sac" (auf Französisch ist die "Sackgasse" gleich viel weniger prosaisch) an die Grenzen der Physik gestoßen ist. Nicht der ganzen Physik, aber immerhin der Optik. Oder seines visuellen Konzepts. Aus der Pixelgeometrie unterschiedlicher Monitore hat er je ein Rot-Gelb-Blau-Trio herausgelöst, das Detail extrem aufgeblasen. Die pittoresken Kleckse eines LCD-Screens haben direkt was von malerischen Gesten. Kein Wunder, ist LCD doch die Abkürzung für "Liquid Cristal Display". (Liquid: flüssig.)
Fast schon eine psychedelische Hinterglasmalerei, zumal diese euphorischen Farben auf die Rückseite der Acrylglasplatte gedruckt worden sind. Analog, wohlgemerkt. Mittels subtraktiver Farbmischung. Der Vierfarbendruck ahmt mit Cyan, Magenta, Yellow und "Key" (Schwarz) den RGB-Farbraum des Bildschirms nach, und dann nimmt das menschliche Auge diese Imitation (oder Simulation) mit seinen drei Zapfentypen wahr (mit den Blau-, Grün- und Rot-Rezeptoren – he: RGB!). "Es is a Spiel über die Bande, das hochkompliziert is", resümiert der Künstler.
Da versteht sich offenbar einer darauf, Konzept in Sinnlichkeit und pragmatische Ideen in ästhetische Kunst zu verwandeln. Und Perfektionismus muss einem nicht peinlich sein.