91,1Millionen, 90,3 Millionen, 69,3 Millionen US-Dollar oder Koons, Hockney, Beeple: Die Top-3-Auktionsergebnisse lebender Künstler. Zu Jeff Koons und seiner silbrig-slicken "Rabbit"-Skulptur und zu David Hockneys Gemälde "Portrait of an Artist (Pool with Two Figures)" aus dem Jahr 1972 können sich Kunstinteressierte etwas vorstellen.

Aber Beeple? Am 11. März 2021 fragten sich Millionen von Menschen, wer zum Teufel hinter diesem kindlichen Pseudonym steckt. Es war jener Tag, als bei einer Online-Versteigerung des Auktionshauses Christie’s eine digitale Collage mit dem Titel "Everydays: The First 5000 Days" bei diesem unglaublichen Gebot der indische IT-Unternehmer Vingesh Sundaresan den Zuschlag bekam. Der 40-jährige Mike Winkelmann, der Mensch hinter Beeple, hatte im Mai 2007 begonnen, jeden Tag eine neue digitale Arbeit zu veröffentlichen. All diese Abbildungen bilden den Grundstock für das Werk, das als "NFT-Kunstwerk" auktioniert wurde.

Diese Auktion ließ die Wellen am internationalen Kunstmarkt hochgehen. Es formierten sich zwei Pole: hymnischer Zuspruch oder erbitterte Gegnerschaft. Die eine Seite reklamierte die zeitgemäße und transparente Form des Kunsthandels für sich. Die andere Seite entdeckte dahinter eine elitäre Spekulationsblase von Computer-Nerds, die gemeinsame Sache mit skrupellosen Investmentberatern machten. Eine Kooperation, der die Kunst in einem kunsthistorisch-tradierten, haptischen Sinn herzlich egal ist.

Kunst oder tagebuchartiges Grafikdesign? Auf jeden Fall sehr teuer: Beeples "Everydays". 
- © Christie’s

Kunst oder tagebuchartiges Grafikdesign? Auf jeden Fall sehr teuer: Beeples "Everydays".

- © Christie’s

Die Folge war ein mediales Nebelgranatenwerfen. Bei Lichtung der Nebelschwaden wurde fassbar, dass die meisten Diskutanten aus der Kunstszene oft nicht nur mit falschen Termini argumentierten,
sondern oft auch keinen blassen Schimmer der Begriffsbedeutung hatten. Da wurde von einer Museums-Kuratorin das Zeitalter der NFTs ausgerufen und dabei die "unfälschbaren Jetons" mit digitaler Kunst verwechselt. Eine Ära, die ihr Haus bis dato gerade einmal mit einem Bildschirmschoner auf NFT-Basis zelebriert.
Auf der anderen Seite verweigerten Medien der Collage des Grafikdesigners die Aufnahme in die "Verkaufshitliste", da sie "Everydays" nicht als Kunstwerk per se adeln wollten.

Die Nebel haben sich nun etwas gelichtet, die Diskussion wird vehement, jedoch sachlicher geführt. Somit ist es höchste Zeit, sich auf Spurensuche nach dem Wert und der Zukunft der NFTs zu begeben.

Valentinstag 2022

Die Freude ist den Beteiligten ins Gesicht geschrieben, zumindest auf den Pressefotos: Am heurigen Valentinstag verkündete die Führungsriege des Wiener Belvederes, dass seit acht Uhr bereits 1.730 NFT-Originale von Gustav Klimts "Der Kuss" verkauft werden konnten. Das spült dem musealen Mutterschiff österreichischer Kunst einen Erlös von 3,2 Millionen Euro in die Kassen. Jedoch warteten noch 8.270 weitere Stücke auf potenzielle Käufer. Denn das Belvedere, mit Generaldirektorin Stella Rollig und dem kaufmännischen Geschäftsführer Wolfgang Bergmann als Initiatoren, hat gemeinsam mit der Wiener Investment-Company Donau-Finanz und dem IT-Unternehmen artèQ, das sich auf NFTs im Kunstkosmos spezialisiert, das ikonische Werk Gustav Klimts in höchstmöglicher Auflösung fotografiert und in 10.000 fälschungssichere Stücke aufgeteilt.

NFT-Präsentation "Der Kuss" von Gustav Klimt im Oberen Belvedere: Stella Rollig, Generaldirektorin Belvedere, und Wolfgang Bergmann, kaufmännischer Geschäftsführer Belvedere. 
- © Ouriel Morgensztern

NFT-Präsentation "Der Kuss" von Gustav Klimt im Oberen Belvedere: Stella Rollig, Generaldirektorin Belvedere, und Wolfgang Bergmann, kaufmännischer Geschäftsführer Belvedere.

- © Ouriel Morgensztern

Bedenkt man, dass dem Belvedere eine Basisabgeltung von neun Millionen Euro pro Jahr (laut Kunstbericht 2020) zugesprochen wird, dann sind Zusatzeinnahmen eines Drittels des Budgets tatsächlich als voller Erfolg zu werten. Falls alle NFTs verkauft werden, dann lukriert das Museum zwei Jahresbudgets, ergo 18 Millionen Euro. "Es ist ein enormer Erfolg für das Belvedere, dass der erste Schritt ins Metaverse gelungen ist", so Direktorin Rollig im Zuge der Präsentation. Bleibt abzuwarten, wie sich die museale Akklimatisierung im Metaverse weiter entwickeln wird.

Dorotheum, Wien

Im lichtdurchfluteten Büro des Geschäftsführers des Dorotheums bemerkt der Gast sofort, dass Martin Böhm sich in den vergangenen Monaten intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt hat. Er unterstreicht im Gespräch mit dem "Wiener Journal" drei Punkte, anhand derer er das Phänomen der NFTs im Kunstmarkt erklärt. Wobei er das Fazit seiner letzten Beobachtungen sehr pointiert formuliert: "Die Diskussionen des vergangenen Jahres über NFTs machen deutlich, dass unter den Blinden der Einäugige König ist – es ist eine derart komplexe Materie, dass es viel an Aufklärung und rechtlicher Absicherung bedarf, damit das Vehikel am Kunstmarkt flächendeckend verwendet werden kann", so Böhm. Mit der rechtlichen Absicherung spricht er einen seiner Punkte an.

Der Erwerb von NFTs ist an den Besitz eines "Wallets", einer Brieftasche, in der die Jetons abgelegt sind, gekoppelt. In dieser Brieftasche werden einzig Kryptowährungen als adäquates Bezahlmittel akzeptiert. Den Währungen ist eigen, sich als manifester Gegenpol des staatlich kontrollierten Währungssystems zu definieren. Sie entziehen sich dem anerkannten Finanzrechtssytem. Es gibt bei Bitcoin, Ether und Co keine Finanzminister und Zentralbanken, die auf Währungen achten und gemeinsam das internationale Zahlungsgefüge kontrollieren. Das erscheint oft unsympathisch, ist aber berechenbar. Was Kryptowährungen nicht sind. Hinzu kommen im Fall der NFTs als Basis des Vertriebs von Kunstwerken selbstverständlich Fragen des Urheberrechts, Copyrights, der Nutzungsrechte und der Vervielfältigung.

"NFTs sind keine Kunstwerke!", ein nicht zu unterschätzender Punkt, den Böhm ins Treffen führt. Darunter leiden nachhaltige wie ernstzunehmende Diskussionen: Zahlreiche Stichwortgeber, selbst Kunstprofis verwechseln bis heute die "Non-Fungible Tokens" mit dem Kunstwerk. Die Jetons stellen lediglich sicher, dass der Besitz digital in einer Blockchain eindeutig dokumentiert ist. Und das auf "alle" Zeit. Denn ein möglicher Weiterverkauf wird mit enormer Rechnungsleistung aka Energieverbrauch auf ewig festgeschrieben. Die NFTs sind Mittel zum Zweck. Und es kann alles über sie verhökert werden – Autos, Comics, Küchengeschirr oder Planeten. Was das Herz eines – gutgläubigen – Käufers begehrt.
Zurzeit weniger digitale Kunst.

Was zum dritten Punkt Martin Böhms führt: Direktorinnen und Direktoren sowie Kuratorinnen und Kuratoren verweisen immer wieder darauf, dass NFTs der digitalen Kunst endlich zum finanziellen Durchbruch verhelfen werden. Das entspricht aber nicht den Tatsachen, betont Martin Böhm. Er hat die entsprechenden Verkaufszahlen studiert – "auch weil wir als Auktionshaus selbstverständlich dahingehend diskutieren und vorbereitet sein müssen" – und keine signifikante Korrelation entdeckt. "Zu 90 Prozent geht es um Flachware, vielleicht etwas Skulpturen. Digitale Kunst in Verbindung mit NFTs verkommt derzeit zur Randnotiz."

Für sein Haus ist eine rechtliche Absicherung von enormer Bedeutung. Wenn die einmal fixiert ist, "werden wir uns auch engagieren", stellt Böhm fest. "Aber bis dahin kann ich es mit meiner Erziehung nicht vereinbaren, meinen Kunden etwas anzubieten und zu verkaufen, das de facto keinen Wert hat!"

Neubaugasse, Wien

Im Atelier des amerikanischen Künstlers und Weltenbummlers Andrew Mezvinsky lehnen großformatige Leinwände an den Wänden, zahlreiche Stoffe liegen auf dem Boden und Skizzen sind an die Wände geheftet. Auf den ersten Blick wirkt Mezvinskys Studio wie das eines Künstlers, der rein in den klassischen Medien der Malerei oder Zeichnung beheimatet ist. Wäre da nicht der überdimensionale Bildschirm, der darauf hindeutet, dass er doch so etwas wie ein "digital native" sein könnte. Und klar, er ist es auch. Seine digitalen Animationen und Videos waren unter anderem im Lenbachhaus in München, im Performance Art Institute in San Francisco oder im Jüdischen Museum in Wien zu sehen. Gemeinsam mit den Leuten von lichterloh.tv arbeitet er gerade an einem NFT-Projekt für die Vienna Art Week.

Multitasking à la Mezvinsky: NFTs & Leinwände. 
- © Melany Mena-Valdez, Atelier Mezvinsky

Multitasking à la Mezvinsky: NFTs & Leinwände.

- © Melany Mena-Valdez, Atelier Mezvinsky

Er hat einen pragmatisch-distanzierten Zugang zu den NFTs. "Bis jetzt hat der Boom der digitalen Kunst nicht weitergeholfen", stellt er im Gespräch mit dem "Wiener Journal" fest. "Andererseits lassen sich Besitzverhältnisse besser darstellen und es besteht die Chance, dass bei Nachfolgeverkäufen Künstlern etwas abgegolten wird." Wobei für ihn die Krux in den Verträgen, die für solche Projekte ausgefeilt werden, liegt. Da werden aktuell seiner Meinung nach viele Beteiligte "über den Tisch gezogen".

Für Mezvinsky, der Stipendiat in der Mongolei war und Kinder in Afrika in Kunst unterrichtet hat, sind es Basisfragen, die ihn beim NFT-Hype beschäftigen: "Was ist, wenn es zu einem Blackout kommt, klassisch der Strom ausfällt? Ich meine Serverrechnung nicht bezahlt habe? Oder die Blockchain gehackt wird? Wo sind dann die Kunstwerke?", stellt er in den Raum. "Man darf nicht so naiv sein, dass das nicht möglich ist. Und es wird auch passieren!" Selbst bei derartigen Worst-Case-Szenarien bleiben auf jeden Fall noch die analogen Leinwände in Andrews Atelier.

Arco Kunstmesse, Madrid

Am Stand der Galerie Crone, mit Standorten in Berlin und Wien, ist Direktor Andreas Huber mit dem Verlauf der beiden Eröffnungstage zufrieden. Sammler haben bei Arbeiten von Otto Zitko, Laurent Ajina oder Donald Baechler zugeschlagen. Ob er sich vorstellen kann, auf NFT basierende Kunstwerke bei internationalen Kunstmessen zu verkaufen? Huber lächelt. "Ich werde jetzt nicht in den Verteufelungskanon von Kollegen einstimmen, wenn das Thema NFTs angesprochen wird", antwortet Huber. "Die Entwicklung ist nicht mehr umkehrbar – die Token sind da und werden nicht mehr verschwinden."

Selbstverständlich erkennt Huber das weitgehende Fehlen von Qualität bei aktuell angebotenen NFT-Arbeiten. "Es ist eine Phase des Experimentierens, aber zukünftig wird uns als Galeristen und Händlern die Technologie neue Käufer- und Sammlerschichten sowie eine notwendige Verbreitung des Kunstmarktes eröffnen", prophezeit er. "Gerade was Editionen, Videos und Fotografie betrifft – NFTs machen sie leichter zugänglich," führt er im Gespräch mit dem "Wiener Journal" weiter aus und fordert eine offensive, klare Auseinandersetzung der Kunstszene.

Wien, Mitte März 2022

Mittlerweile wurden die 3,2 Millionen Euro des Valentinstags an das Belvedere überwiesen, wie Wolfgang Bergmann auf Anfrage des "Wiener Journals" bestätigt. "Aktuell sind bereits 2.390 Token verkauft", erklärt er. Was Kunden mit den auf Zufallsbasis zugeteilten Jetons machen können? "Sie können ihr NFT gegen Aufzahlung jemandem widmen, es verschenken oder weiterverkaufen", hebt er den emotionalen wie kaufmännischen Nutzen der Kussbildchen hervor. Wobei der Weiterverkauf sich schwierig gestalten dürfte. Wenn nach einem Monat erwartungsvoller Euphorie gerade einmal ein Viertel des Angebots veräußert werden konnte, gibt es für Interessierte ausreichend Angebot. Sie müssen nicht auf Weiterverkäufer zurückgreifen.

"Wäre das Kuss-Brimborium ein IPO – die erste Aktienplatzierung eines Unternehmens – gewesen", konstatiert ein Kunstsammler und ehemaliger Investmentmanager, "wäre es als veritabler Misserfolg zu verbuchen. Es gibt keinen Markt für die Kacheln und daher besteht die Gefahr, dass sie zum Ladenhüter im Metaverse-Souvenir-Shop verkommen", formuliert er spitzzüngig.
Wie es Andreas Huber treffend auf den Punkt gebracht hat: NFTs – eine spannende wie ergebnisoffene Experimentierungsphase, nicht mehr, aber auch nicht weniger.