Er gibt ganz offen zu, dass er nicht an der jeweiligen Persönlichkeit interessiert ist, sondern nur auf die Haut steht. ("I just use their skin.") Um was damit zu tun? Na ja, sie zu malen. Schließlich ist der Thomas Thyrion Maler. Ein exzellenter noch dazu. (Und selbstverständlich häutet er seine Modelle nicht, um an ihr abgrenzendes Hüllorgan, ihre Barriere zwischen Außen und Innen, ranzukommen. Er macht höchstens ein paar Fotos.)
Zu sehen sind in der bechter kastowsky galerie trotzdem keine Akte (obwohl die mehr Haut zu bieten hätten), dafür Gesichter. Vorwiegend junge, glatte. Und Bäume. Alte, schorfige. Wobei es sich bei Letzteren eigentlich weniger um Landschaften handelt als ebenfalls um Porträts.
Stille Wasserfarben sind tief

Den Betrachter nur nicht ansehen: Schüchternes Aquarell (2021) von Thomas Thyrion.
- © Thomas Thyrion und bechter kastowsky galerieHaut (bzw. Rinde) – klingt oberflächlich. Das ist die Kunst des Belgiers (1983 geboren), den es nach Wien verschlagen hat, wo er Schüler von Gunter Damisch war, aber eh nicht. Oder natürlich ist sie es schon. Auch. Die Äußerlichkeiten werden mit Hingabe und allen Finessen geschildert, die Wimpern quasi gezählt. Außerdem geht der Künstler äußerst sensibel mit dem Pinsel um. Streichelt mit diesem die Wangen aus der Fläche förmlich heraus. Lässt die rosig durchblutete, samtige Epidermis sich am Licht wärmen, das einmal schier vermeerisch durchs Fenster hereinspäht. Es herrscht freilich eine eigentümliche Stimmung. Eine unterschwellige Einsam- und Traurigkeit.
Fast durchwegs Aquarelle übrigens, die allerdings wie Tafelbilder präsentiert werden, nämlich einen hölzernen Rücken haben sozusagen, zumal das Papier auf Holz aufgezogen worden ist. Typische Vertreter ihrer Art sind das sowieso keine. Weil sollten das nicht fließendere Gewässer sein (lateinisch "aqua" = Wasser), die Farben "verwaschener" sein? Andererseits sind Dürers Feldhase und sein "Großes Rasenstück" genauso Aquarelle. Diese präzisen Naturstudien.
Nicht, dass Thyrion die Wasserfarben nicht da und dort "aquarelliger" einsetzen würde. Er kann eben beides. Die Dinge rasch erfassen und sie penibel ausformulieren (sichtlich mit höchster Konzentration, Disziplin und mit Genuss). Durchaus auf ein und demselben Blatt. In einem reizvollen Dialog.

Sanfte Töne und Zwischentöne auf Papier und dann auf Holz aufgezogen: Aquarell à la Thyrion.
- © Thomas Thyrion und bechter kastowsky galerieFür ihn ist, wie er meint, die Malerei obendrein "mehr ein Prozess als ein Ergebnis. Wo mich dieser Prozess hinführt, darauf kommts an. Ich kann mich in Details verlieren, einfach weil es mir erlaubt, in einen leicht veränderten Bewusstseinszustand reinzukommen". Darüber hinaus muss er bei einem Aquarell nicht wie beim Öl nach jeder Schicht lange warten, bis sie endlich trocken ist und er weitermachen kann.
Der Beschützerinstinkt des Aquarellisten
Dass man dieser Malerei mit all ihren Feinheiten so nahe sein kann (und es sogar muss – immerhin hat da jemand ein Faible fürs Kleinformat, und ein solches ist nicht unbedingt für die Fernsicht geeignet), das liegt nicht zuletzt am fehlenden, womöglich spiegelnden Glas, mit dem es einem andere oft echt schwermachen durchzublicken. Denn Aquarelle müssen vor dem Betrachter und der Welt beschützt werden. Das ist nun einmal ihr "Fluch" (Thyrion). Sein, Thyrions, Beschützerinstinkt äußert sich hingegen in einer Versiegelung mit einer Schicht aus Wachs und Harz, die mit den Pigmenten darunter wasserfest verschmilzt.

Blickkontakt: Thomas Thyrions introvertierte Malerei sieht ausnahmsweise zurück.
- © Thomas Thyrion und bechter kastowsky galerieDie Aquarelle kriegen gewissermaßen selber eine Haut, eine sinnliche Fleischlichkeit. Ungestört kann die Schaulust also in diese zarten Töne und Zwischentöne eintauchen, wo selbst die Schärfen irgendwie weich sind, kann sich in die erdige, zurückhaltende Palette kontemplativ eingraben.
Und wer sind die Dargestellten, diese introvertierten Porträtierten, die zur Seite sehen, nach unten oder verträumt nach oben, jedenfalls den Blicken der Besucher beinah demonstrativ ausweichen? (Ein einziges Augenpaar verweigert sich dem ophthalmischen Social Distancing und schaut einen direkt an. Von dem fühlt man sich regelrecht ertappt. Als Voyeur respektive als Voyeur-in.) Freunde und Kinder von Freunden sind das in der Regel. Meist von ihrem späteren Porträtisten selbst fotografiert. Lediglich während eines Lockdowns musste er eine Mutter bitten, das für ihn zu übernehmen und ihren Nachwuchs abzulichten.
Doch kein Problem. Erstens ist diese "a good photographer" und zweitens nutzt Thyrion die Fotos eher wie Skizzen. Weder projiziert er sie, wie es manche figurative Maler gerne tun, auf den Malgrund noch kopiert er sie sklavisch, malt sie ab. Interpretation und Manipulation können für dezente Verschiebungen der Wirklichkeit sorgen. Parallelverschiebungen. Für eine parallele Realität. Überdies verheimlicht der lasierende Farbauftrag die Vorzeichnung nicht. Der Bleistift, die Vorhut, wird gleich überhaupt zum Assistenten des Pinsels. Mehr oder weniger. Technik: Aquarell (mitunter Acryl) und Bleistift auf Papier, wohlgemerkt.
Das Leben ist ein Zeichenkünstler

Landschaft oder Doppelporträt? Beides? Ansonsten das volle Programm: Aquarell und Bleistift auf Papier, aufgezogen auf Holz plus Acrylversiegelung.
- © Thomas Thyrion und bechter kastowsky galerieDie Bäume daneben sind vom Dasein gezeichnet (und vom Thyrion gemalt - und gezeichnet). Kahle Äste, Wunden und Wurzeln, die sich verbissen im Boden festkrallen, zeugen von der Verletzlich- und Hartnäckigkeit des Lebens. (Baumleichen? Untote Bäume? Botanische Zombies?) Die Borke in Nahsicht wird zur schrundigen Hornhaut. Liebevoll versenkt sich Thyrion in jeden Spalt in der rissigen, rauen Rinde wie Rembrandt in die zerfurchte Physiognomie seiner Mutter.
Diese mächtigen Großpflanzen haben definitiv einiges hinter sich, die unverbrauchten Kindergesichter, mit denen sie (harmonisch) kontrastieren, noch alles vor sich. Die Vergänglichkeit spielt da eindeutig mit herein. Dass nichts ewig währt, nichts gleich bleibt. Ob die Ausstellung deshalb "Until Today" heißt? (Bis heute.) Weil keiner weiß, was morgen sein wird?
Rätselhaft: Der Stamm im Tageslicht, der kombiniert ist mit einer nächtlichen Waldszene als "Sockel". Soll das da unten vielleicht die weiße Hindin aus dem Märchen sein? Die verwunschene Prinzessin? Hm. Aber bekommt die nicht, sobald es finster wird, ihre menschliche Gestalt zurück? Und ist bloß tagsüber eine Hirschkuh? Ist das denn eine Hirschkuh? Oder vielmehr ein Reh?
Wurscht. Offenbar war das eine rein "grafische Entscheidung", das Wild als Leuchtkörper in der Dunkelheit an den unteren Bildrand zu drängen. ("Ich brauchte etwas, um die Helligkeit, die den Baum oben umgibt, auszubalancieren.") Und es hat ihm schlichtweg Spaß gemacht, "damit zu experimentieren, wie zwei zusammengefügte Bilder eine zufällige Bedeutung kreieren können". Oh.
Haus mit Garten oder lieber mit Prärie?
Apropos Stamm: Und dieses etwas verloren im Sonnenschein und in der Prärie herumstehende Farmhaus mit der surrealen Ausstrahlung und der Aura von Edward Hoppers einsamstem Gebäude (von jenem, das zum Vorbild für das Bates-Haus in "Psycho" geworden ist)? Woher stammt das? Aus Amerika? Nein, aus dem Internet. Ansonsten tippt der, der es in diesem riesigen, praktischen Archiv für sich entdeckt hat, jedoch eh auf die USA oder Kanada. Auf alle Fälle ein Bauwerk mit Charakter. Irgendwann will Thyrion, der mit seiner Familie in einer Wohnung im zweiten Bezirk lebt (aha, ein Leopoldstädter), auch ein Häuschen. Eins mit Garten, nicht eins mit Prärie.

Hier sonnen sich die Farben: Bild ohne Titel, aber mit Haus, 2019 gemalt und wachsversiegelt von Thomas Thyrion.
- © Thomas Thyrion und bechter kastowsky galerieGerahmte intime Momente, die die viele weiße Wand und Leere um sich herum locker aushalten. Ach, was: brauchen.