Es ist eine Tortur. Eine Kombination von Klaustrophobie und der Angst, über ein Kunstwerk zu stolpern. Und das Gefühl kehrt alle zwei Jahre, heuer eben drei, wieder. Die Hauptausstellung der Kunstbiennale im Pavillon in den Giardini gerät regelmäßig zu einem Hürdenlauf des Grauens - vollgepackt, unübersichtlich, chaotisch. Im heurigen Jahr läuft die Präsentation unter dem sperrigen Titel "The Milk of Dreams", und die italienische Kuratorin Cecilia Alemani hat 213 Künstlerinnen und Künstler aus 58 Ländern eingeladen, 1.433 Kunstwerke in unterschiedlichsten Medien zu präsentieren.
180 von ihnen sind zum ersten Mal bei der Biennale vertreten. Eine derart hohe Anzahl an Erstpräsentationen - und in der weit überwiegenden Mehrheit Frauen - zu ermöglichen, ist ein begrüßenswertes Unterfangen, aber das scheitert zumindest im großen Giardini-Pavillon: Es hilft keiner Künstlerin, keinem Künstler in einem Wust von Werken unterzugehen und bei einer essenziellen Premiere nicht wahrgenommen zu werden. Oder nur als Inserat in Kunstmagazinen entdeckt zu werden, die die Galerien während der Biennale schalten, um auf die von ihnen vertretenen Künstlerinnen und Künstler in der Hauptausstellung aufmerksam zu machen. Ein Teufelskreis.

Zur Wahrnehmung: Der wunderbaren chilenischen Künstlerin Cecilia Vicuña wurde heuer der Goldene Löwe für ihr Lebenswerk verliehen, und im Giardini-Pavillon zeigt sie eine filigrane, schwebende Installation. Aber nicht, dass sie einen Raum für sich alleine hätte. Nein, am Ende des Raumes wurden drei riesige Stoffskulpturen der indischen Künstlerin Mrinalini Mukherjee platziert. Deren Arbeiten sind stark und beeindruckend, aber als Gegenpol zu Vicuña falsch inszeniert. Unter Umständen muss der Kuratorin Alemani zugutegehalten werden, dass sie die Ausstellung aufgrund der Reiserestriktionen - sie lebt in New York - hauptsächlich über Zoom-Meetings zusammengestellt hat und erst ein paar Wochen vor der Eröffnung nach Venedig gekommen ist.
Wie dem auch sei. Es gibt selbstverständlich spannende, aufregende und nachdenklich machende Positionen bei "The Milk of Dreams" zu entdecken - hauptsächlich im Arsenale, wo die Arbeiten "atmen" können. Wie die Bilder und ergreifenden Skulpturen der kubanischen Künstlerin Belkis Ayón, die mit nur 32 Jahren 1999 ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Oder die beachtliche Installation von Zeichnungen mit Texten der Chilenin Sandra Vásquez de la Horra "No pasarán, los venceremos mí amor". Nachdrücklich in der Erinnerung bleibt die Malerei von Noah Davis, der ebenfalls mit 32 Jahren 2015 an Krebs verstorben ist. Davis setzt sich mit einprägsamen Motiven und Farben mit dem Leben der "African-Americans" auseinander. Die raumgreifende Installation der russischen Künstlerin Zhenya Machneva, geboren 1988 in Sankt Petersburg, operiert mit unterschiedlichen Texten: Auf der einen Seite ist der Raum mit Zitaten austapeziert und auf der anderen Seite werden von ihr zum Beispiel beim US-amerikanischen Treue-Gelöbnis auf die Fahne und Nation "The Pledge of Allegiance" in einem Video einzelne Wörter "autokorrigiert" und ergeben daraus eine teilweise ironische Neuinterpretation. Das gleiche Spiel wendet sie auch beim Ehegelöbnis an.

Keineswegs beliebig
Es muss im Interesse der Leitung der Kunstbiennale sein, die Hauptausstellung fokussierter, klarer und einfacher zu überblicken zu gestalten. Wenn nicht, dann besteht die ernstzunehmende Gefahr, in Bedeutungslosig- und Beliebigkeit abzugleiten. Denn die Ausstellungskonkurrenz in den Museen und temporären Kunsträumen während der Biennale wird mit jeder Ausgabe stärker und fordernder.

Qualvoll fordernd ist auch der griechische Pavillon. Um die Videoinstallation "Oedipus in search of Colonus" der Künstlerin und Filmemacherin Loukia Alavanou sehen zu können, muss der Besucher, die Besucherin zuerst einmal lange anstehen. Denn lediglich 15 Personen dürfen gleichzeitig in den Ausstellungsraum und das Virtual-Reality-Video dauert 15 Minuten. Hat man es einmal geschafft, nimmt man in einem ungemütlichen, futuristischen Hybrid aus Fernseh- und Schreibtischsessel von Takis Zenetos Platz und bekommt die enge VR-Brille übergestülpt. Plötzlich befindet man sich an einem der hässlichsten Orte Griechenlands. Auf einem riesigen Mistplatz westlich von Athen lebt eine Roma-Gemeinschaft, die in den 1980er-Jahren von Theben hierhergezogen ist. Eine Siedlung, die sich interessanterweise "Nea Zoi" nennt - auf Deutsch "Neues Leben". Nach dem Leben auf dem Mistplatz ist es den Bewohnern jedoch untersagt, hier auch begraben zu werden. Eine perverse Absurdität der Bürokratie, die sich im Tod plötzlich an hygienische wie moralische Werte erinnert. Mit dem Tod beginnt auch die Analogie zu Ödipus, der auf dem Weg von Theben nach Kolonos hier vorbeigekommen sein soll und der Sage nach ebenfalls hier begraben werden wollte. Was ihm auch nicht erlaubt wurde. Loukia Alavanou inszeniert mit den hier lebenden Romni Teile des vor 2.500 Jahren verfassten Theaterstücks von Sophokles und der Besucher, die Besucherin findet sich mitten unter ihnen wieder. Er, sie kann den Stuhl drehen, um zu erleben, was dahinter passiert. Eine Arbeit, die in ihrer Härte und Schonungslosigkeit fasziniert und fesselt. Mit Sicherheit einer der besten Pavillons der heurigen Biennale.
Auf eine andere Art ergreifend präsentiert sich der französische Pavillon: Die französische Künstlerin mit algerischen Wurzeln Zineb Sedira hat die Räume als Filmsetting gestaltet. In ihren Recherchen ist sie auf einen Dokumentarfilm des italienischen Regisseurs Ennio Lorenzini aus dem Jahr 1964 gestoßen. Lorenzini porträtierte in seinem Werk den Optimismus und die Aufbruchstimmung Algeriens, das gerade von Frankreich die Unabhängigkeit erlangt hat. Sedira kombiniert in ihrer Arbeit "Dreams have no Title" private Erinnerungen, wie ein Wohnzimmer aus der Zeit, die Versprechungen der Politiker bis hin zu einer Bar mit Tangotänzern. Ein Bild eines liberalen und aufgeklärten muslimischen Staates - bis zum Eigenanbau des "Vin dAlgerie".

Macht der Museen
Ein Trugbild, wie die Jahrzehnte danach bis heute zeigen. Im benachbarten Pavillon von Großbritannien stellt die Künstlerin Sonia Boyce die Machtmechanismen von Museen und Kulturinstitutionen in Frage. In einer sehens- und hörenswerten Installation von Videos, Skulpturen und Sound konterkariert sie die Vormachtstellung meist männlicher Entscheidungsträger der internationalen Kunstszene mit Experimentierfreude und originärer Kreativität.
Der Pavillon Deutschlands liegt gegenüber und wird wieder einmal dekonstruiert. Heuer liegt es an der Künstlerin Martina Einhorn, Wände abzuklopfen und die Fundamente freizulegen. Eventuell wäre es überlegenswert, den Bau, der so sehr an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert, einfach mal abzureißen, anstatt sich redundant konzeptuell daran zu reiben. Wie fein durchdacht und brillant mit vorgegebener Architektur umgegangen werden kann, beweist der Künstler Ignasi Aballí mit seiner Arbeit "Corrección" im spanischen Pavillon - mit dezenten Eingriffen schwenkt er den gesamten Bau. Sehens- und erlebenswert.