Eine Vertikalphobie? Die Angst vor allem Senkrechten? (Nicht zu verwechseln mit dem, was der Hundertwasser hatte: der Scheu vor der geraden Linie. Dem wars bekanntlich egal, ob diese vertikal oder horizontal verlaufen ist.) Und Vertikalphobie, das ist anscheinend kein Synonym für Höhenangst. Oder für das Gegenteil. Wobei das angeblich gar nicht die Tiefenangst ist. (Laut Wikipedia.) Sondern die – Schwindelfreiheit. Im Bildraum 07 leidet jedenfalls einer an dieser Angststörung.
Die hindert ihn allerdings nicht daran, in der Früh aufzustehen, also das Bett zu verlassen und sich aus der Horizontalen in die Vertikale zu begeben. Okay, danach besteigt er in der Regel sein Motorrad und braust dem unerreichbaren Horizont entgegen. Na ja, die Waagrechte bedeutet nun einmal Bewegung. Fortbewegung. (Leck mich am Auspuff!) Und die Vertikale im Gegenzug Stillstand. (Außer man fährt mit dem Lift, fliegt mit einer Rakete ins All, springt Trampolin oder fällt runter.)
Mensch und Maschine verschmelzen zum Nervenkitzel
Gonzo heißt er, der Typ. Wie der aus der "Muppet Show" mit der geknickten Nase? Richtig, genau wie der. Trotzdem handelt es sich um einen anderen. Dieser Gonzo spielt nämlich nicht Trompete, macht freilich ebenfalls einen Krach. Lässt gern den Motor aufheulen. Ursprünglich war er übrigens eine Figur aus einer Motorcycle-Soap-Opera (ich weiß, was Kaja Clara Joo letzten Sommer getan hat: eine Motorcycle-Soap-Opera geschrieben), und jetzt widmet die österreichisch-koreanische Künstlerin ihm eine komplette Ausstellung.

Hier steht Gonzos Geschichte drin (zur freien Entnahme). Kaja Clara Joo hat sie aufgeschrieben. Oder eigentlich erfunden. Im Kern ist sie aber möglicherweise wahr.
- © Kaja Clara Joo, Bildrecht 2022Bzw. ein multimediales Gesamtkunstwerk aus Skulptur, Malerei, Video und Literatur. Oder "und Journalismus"? Ein bissl war schließlich der Gonzo-Journalismus Namensgeber. Mit seinem radikal subjektiven Stil, bei dem Objektivität kein Kriterium mehr darstellt. Vielmehr der emotionale Zugang und die Übertreibung. Realität und Fiktion, Recherche und Dichtung (und mit Letzterer ist natürlich nicht jene am Auspuff gemeint, sondern das sprachliche Kunstwerk) verschwimmen auch in Joos aktueller Arbeit, fusionieren dort wie Mensch und Maschine.
Die originelle Geschichte von besagtem Gonzo, der sich seit seiner traumatischen Sturzgeburt vor der vertikalen Linie förmlich zu Tode fürchtet, erzählt zunächst ein unscheinbares Büchl "zur freien Entnahme" ("Gonzo – Anatomie einer Szenerie", gleichfalls von Kaja Clara Joo verfasst – "mit Ach und Krach und Müh"), das man in ungefähr zehn, zwölf Minuten durchaus "derliest" (sprich: eventuell sogar noch vor Ort). Oder man hebt sich die Lektüre für daheim auf und schaut sich bloß die Bilder an. Schwarzweißfotos. (Joo hat an der Angewandten Fotografie studiert – neben Transdisziplinärer Kunst.) Licht und Schatten modellieren da die fast cyborgartig enge Verbundenheit zwischen dem Organismus (in dem Fall dem Bruder) und seinem anorganischen Gefährt dramatisch heraus. Biologie und Technik verschmelzen zu einer Schicksalsgemeinschaft, zu einem Nervenkitzel.
Der fahrbare Unterleib

Der Traktorreifen von hinten. Von hier aus sieht man, was da so einen Lärm macht: der Motor, der ihn antreibt. (Detail aus Kaja Clara Joos "Prosthesis"-Installation.)
- © Kaja Clara Joo, Bildrecht 2022"Gonzo war bei seiner Geburt auf den Kopf gefallen" – mit diesem lapidaren Satz beginnt der schmale Band (oder eigentlich weist die Autorin davor noch auf den "Unfall einer mir sehr nahestehenden Person" hin). Und weil der Köpfler aus dem Geburtskanal abrupt vom Asphalt abgebremst wird, ist der neue Erdenbürger fortan auf diesen geprägt, regelrecht auf ihn fixiert. Außerdem glaubt Gonzo, nur diese Schutzschicht hätte ihn davor bewahrt, vom Planeten verschlungen zu werden, sich in dessen lebensfeindliches, feurig brodelndes Inneres zu bohren.
Mit seinem ersten Motorrad, das quasi zu seinem fahrbaren Unterleib wird, zu einer Prothese, die einen Körperteil ersetzt, der ihm offenbar bislang gefehlt hat, agiert er einerseits seinen Freiheitsdrang und sein Verlangen nach Selbstbestimmung aus und fährt andererseits, indem er wie besessen der asphaltierten Horizontalen folgt, vermeintlich der verhassten Vertikalen davon, der Richtung der Gravitation, der Erdanziehungskraft, des freien Falls. Vermeintlich, wohlgemerkt. Denn als es ihn einmal auf der Autobahn infolge eines Risses im Asphalt und eines ablenkenden Bauchgrummelns hinprackt und die intime Verbindung brutal gelöst wird, muss er plötzlich erkennen, dass die Bezeichnungen "horizontal" und "vertikal" relativ sind. Von der Perspektive abhängen. Und aus seiner nunmehrigen bäumt sich selbst die Bodenmarkierung senkrecht auf. Und die Verkehrszeichen sind sowieso vertikal.
Die kinetische Installation "Prosthesis (Stand der Dinge)", in Kooperation mit dem Mechatroniker und Erbauer bewegter und interaktiver Apparate Christoph Freidhöfer (Kunst- und Räderwerk) realisiert, bringt dieses weltbilderschütternde Ereignis mit kompakter Theatralik auf den Punkt. Oder auf den Reifen. Und die Wucht des affektgeladenen Geschehens vergrößert diesen zu dem von einem Traktor. Den (den Reifen, nicht den ganzen Traktor) hat die Künstlerin einem pensionierten Landwirt abgekauft. Mit dem "originalen Dreck" drauf. Einem Hauch Naturalismus und Authentizität.

Aktionistisches Malgerät ist die "Prosthesis" (2022) von Kaja Clara Joo also auch. (Siehe Wand.)
- © Kaja Clara Joo, Bildrecht 2022Straße, Geschwindigkeit und Thrill verdichten sich lautstark zu diesem einen essentiellen Moment, und der dreht sich rasant. Obwohl sich Traktoren sonst eher gemächlich fortbewegen, wird der Reifen hier ungemütlich beschleunigt. Von einem Vintage-Motor aus den 1960er Jahren. Und der Betrachter wird zum Schaulustigen am Straßenrand. Zum Gaffer.
Der Reifen spritzt weiter als Jackson Pollock

Mischung aus Roadmovie und Interview: Kaja Clara Joos sechskanälige Videoskulptur "Ultrafriction (Wahre Halunken)", 2022.
- © Kaja Clara Joo, Bildrecht 2022Schwebend rotiert und lärmt der mächtige XL-Reifen über einem Stück Fahrbahn vor sich hin, das von teerschwarzem Latex gemimt wird und seinerseits abhebt, sich an jedem der beiden Enden zu einer Rampe aufbiegt, von der wiederum je ein Action-Painting abgesprungen ist. Weil Joo diese bühnenhafte Vorrichtung als Malgerät genutzt hat. Um "schwarzes Wasser" an die Wände zu schleudern (eine Emulsion aus H₂O und Reiskohlepulver, die leicht zu entfernen ist, ohne dass sich der "Originaldreck" auf dem Reifenprofil mit verabschiedet).
Energiegeladene Spritzbilder als malerische Fortsetzung der skulpturalen Dynamik. Und der geradezu kreatürlich taktilen Latexhaut (gefärbt ebenfalls mit Reiskohlepulver). Die hat eine dermaßen vitale, brodelnde Haptik, als wäre sie selber ein Lebewesen. Oder Joo hätte sie zumindest von etwas Lebendigem abgezogen. Dabei hat sie sie von geschmolzenen Plastikplanen abgelöst. (Nachdem sie "viel umadumprobiert" hatte, um diese impulsive Struktur rauszukriegen.) Hm. Versiegelt der Asphalt nicht das Fleisch der Erde? Und hat gleichermaßen ein Gedächtnis? Erinnert sich mit Schlaglöchern und Spurrillen an den Verkehr?
Und die hochformatige, kurz: vertikale Videoskulptur? Das sechsteilige Puzzle aus zusammengefügten Monitoren? Zeigt ein Roadmovie? So in etwa. Ein Interview (und das wurde, Joo: "absolut authentisch geführt") mit Joos Bruder Arthur, der zufällig dasselbe Motorradmodell besitzt wie Gonzo: eine Honda CBF 600. Spitzname "Hornet".
Asphaltlecker sind total gonzo

Er fährt dieselbe Maschine wie Gonzo (eine Honda CBF 600): Kaja Clara Joos Bruder Arthur, der in "Ultrafriction" nicht nur über die Faszination der Geschwindigkeit plaudert.
- © Kaja Clara Joo, Bildrecht 2022Man sieht ihn beim Polieren oder wie er seine "Hornisse" zum Summen bringt respektive zum Aufjaulen, die Geschwister unterhalten sich über die Faszination der Geschwindigkeit (Arthur: "Das machts auch irgendwie spannend. Zu wissen: Okay, nächste Kurve kanns auch aus sein."), über die emotionale Bindung zur Maschin, über Halbstarkenrituale, den Unfall eines Freundes, den die Beulen am – ausgeborgten – Bike mehr mitgenommen haben als seine gebrochene Schulter und sein seltsam verdreht wegstehender Arm.
Und immer wieder wird der künstliche Asphalt (der Latex) von der Kamera abgefahren, abgetastet, oder von einer Zunge (der der Künstlerin) lustvoll abgeschleckt, was total "gonzo" ist. (Gonzo ist mittlerweile ja obendrein ein Adjektiv. Mit der Bedeutung "exzentrisch", "verrückt", "übertreibend".) Also ein erotischer Film? Ein Roadporno? Nicht, dass die waagrechte Kamerafahrt in die Vertikale erigieren würde. Die senkrechte Videowand stellt die gefilmte Straße lediglich auf. Kippt sie.
Und die Nachtszenen? Wer hat da mit dem Motorrad und möglicherweise einer Helmkamera die Kreisverkehre und Unterführungen in Simmering erkundet? Niemand. Joo: "Das hab ich leider nicht geschafft. Ich wurde mit einem Auto transportiert." Echt? Macht nix. Die Beifahrerin tut ohnedies äußerst glaubwürdig so, als wäre ihr Kraftfahrzeug einspurig. Und als würde sie lenken.
Alles in allem eine sinnlich komplexe Beziehungsgeschichte.