Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. (Oder angeblich.) Und dann aus. In den Mischtechniken von Adriana Czernin fallen sie regelrecht übereinander her. Da gehts heftig zur Sache. Und das sogar ganz jugendfrei. Allerdings sowieso nur, weil es sich um abstrakte Bilder handelt. Als ob die nicht genauso sinnlich und erotisch sein könnten. Oder pornografisch. Oder Gewaltorgien.
Mit Bleistift und Wasserfarben (und immer wieder zudem mit Acryl, Tempera, Buntstiften, Kreide – hm, klingt nach promiskuitiven Techniken) bringt die Künstlerin spannungsgeladene Beziehungsdramen zu Papier. Ach, der Bleistift hat was mit einem Pinsel? Die Zeichnung was mit der Malerei? Unter anderem. Und das Eckige treibt es mit dem Rundlichen, die Geometrie mit dem A- bzw. Biomorphen, der feste Aggregatzustand mit dem flüssigen.
Ob das Chaos ein Ornament ist?
Moment: abstrakt? Kennt man die in Wien und im steirischen Rettenegg lebende gebürtige Bulgarin (1969 in Sofia auf die Welt gekommen) nicht für ihre Muster-Mensch-Begegnungszonen? Ihre großen Formate, wo die menschliche Figur ein intimes Verhältnis mit dem Dekorativen hat, sich in Letzterem förmlich auflöst? Okay, ein Suchbild mit bestens getarnter Dame hängt in der Galerie Martin Janda eh auch. Im ersten Stock. Ein gesichtsloses Porträt, weil die Physiognomie hinter einer geometrischen Camouflage in Deckung geht, mit dem Betrachter, der Betrachterin Verstecken spielt.

Suche die Frau! Gesichtsloses "Portrait I (Ibn Tulun)" (2020) von Adriana Czernin. Wasserfarbe, Bunt- und Bleistift auf dreieinhalb Quadratmetern Papier.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaDer nackte Hals bleibt freilich das einzige Stückl Haut, das in der Ausstellung hervorblitzt, nämlich aus den dekonstruierten, durch Brüche gekonnt dynamisierten Ornamenten, diesen potenziell unendlichen, gemusterten Weiten, deren Regelmäßig- und Vorhersehbarkeit laufend gestört werden. Ein Muster ist ja jedenfalls ein theoretisch in alle Richtungen expandierendes, doch in der Regel flaches Universum.

Zieht die Aufmerksamkeit sogar aus dieser Entfernung auf sich: Adriana Czernins Hommage an den Fußboden der Ibn-Tulun-Moschee in Kairo. ("Ibn Tulun 106", 2018.)
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaJö, lauter Sterne! (Fünfzackige.) Die Bodenfliesen der Ibn-Tulun-Moschee in Kairo waren die Inspirationsquelle für dieses kosmisch-irdische Muster (denn stilisiert blumig ists obendrein irgendwie), vor dem sich ein kristallin gewachsener Körper rekelt. Ein andermal webt sich ein Blattornament aus demselben islamischen Gotteshaus (konkret: von der Minbar, der Kanzel) wuchernd in ein geometrisches Gitter rein, das ebenfalls von dort stammt und das auf der Holztafel (also ausnahmsweise nicht auf Papier) metallisch glänzt, nachdem der Bleistift da tüchtig seinen Grafit abgeladen hat. Als aquarellige Arabeske umrankt die Malerei die disziplinierten kräftigen Linien der strengen Zeichnung. Das Chaos verschmilzt untrennbar mit der Ordnung. (Oder ist das Chaos womöglich ein Ornament?) Gleich gegenüber spitzt sich wiederum ein Gebilde aus komplex fusionierten Tetraedern (angelehnt an den Tennantit, ein stahlgraues Mineral) plastisch in die Illusion einer dritten Dimension hinein.
Das Sehen kommt mit dem Schauen

Fest im Griff: Die Geometrie nimmt den amorphen Kontrahenten in den Schwitzkasten. Titelloses (2022) von Adriana Czernin.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaStatt eines ornamentalen Allover, eines flächendeckenden Musters, das das Blatt sozusagen versiegelt, schweben neuerdings Verdichtungen und Ballungen schier schwerelos im Bildraum. (Da trifft es sich ja gut, dass ein gewisses Schreib- und Zeichengerät selbst in der Schwerelosigkeit funktioniert. Im Gegensatz zum Kuli, der ohne Schwerkraft streikt.) Dialoge, geradezu Streitgespräche, sind das. Zwischen ungleichen Paaren, die sich trotzdem so nah sind wie Schimmel und Brot, Rost und Eisen. Zum zackig Kantigen, das der Bleistift "mineralisiert" hat (der Grafit aus seiner Mine ist schließlich ein Mineral), gesellen sich quasi die Weichteile der Malerei, anschmiegsame organische Formen.
Symbiotische Partnerschaft oder Parasitenbefall? Und "umarmt" die Geometrie die fließende Farbe beschützend oder engt sie sie ein, erdrückt sie, raubt ihr die Freiheit? Mit unglaublicher Präzision und höchster Konzentration (man könnte es auch Perfektion nennen) schildert Czernin das ambivalente, mitunter fast martialische Geschehen. Das Orangerot oder Lila im Hintergrund trägt sie etwa so akkurat auf, dass man meinen könnte, das wäre von Haus aus ein Buntpapier gewesen. Die schimmernden Grafitflächen poliert man richtiggehend mit den schaulüsternen Blicken, die außerdem durch malerische Finessen und räumliche Irritationen bei Laune gehalten werden. Und wie der Appetit vielfach mit dem Essen kommt, kommt hier das Sehen mit dem Schauen. Sattsehen wird man sich aber wohl dennoch notgedrungen früher oder später. Eher später.
Malerei frisst Zeichnung

Da bleibt der Blick hängen wie die Leider-nein-Kandidaten in Dornröschens Dornenhecke: Adriana Czernin kriegt den verführerischen Metallschimmer übrigens mit dem Bleistift hin.
- © kunst-dokumentation.com, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaWarum der Ausstellungstitel "Delta" lautet, darüber kann man lediglich spekulieren. Weil der vierte Buchstabe im griechischen Alphabet die Statur eines Dreiecks hat (das große Delta) und Dreiecke nun einmal zentrale Elemente der Arbeiten sind? Oder wegen der Delta-Variante des Coronavirus? (Vielleicht hat Czernin ja seit deren Auftauchen an diesen Bildern gewerkt.) Dass das die vierte Einzelpräsentation der Künstlerin in den Räumlichkeiten vom Martin Janda wäre, ist zumindest keine Option. Besonders weil es bereits die siebente ist. Folglich müsste die dann "Eta" heißen. Nach dem siebenten Buchstaben.
Brutal: "Jam II" – und das englische "jam" bedeutet übersetzt nicht bloß Marmelade, sondern ebenso Klemme, missliche Lage. Das passt. Immerhin wird da eine eckige Endlosschleife von einer kreatürlichen Masse heimgesucht, die wahrscheinlich grad ihre Beute verschlingt. An sich toxische Beziehungen. Vom künstlerischen Standpunkt aus dagegen überaus glückliche.

Die formlose Masse hat an der Geometrie einen Narren gefressen. Oder hat sie sie vielmehr zum Fressen gern? Adriana Czernins "Jam II" (2022).
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Martin Janda, Vienna