Wer dieser ominöse Weltgeist ist, weiß ich zwar noch immer nicht, aber diese einprägsame Gruppenshow hier, die ausgesprochen körperlich ist und trotzdem sehr philosophisch (geistreich eben), ist nach ihm benannt. Und? Wie heißt er? Keine Ahnung. Die Ausstellung jedenfalls "Weltgeist". Bjorn Stern ist nämlich nicht sein Name, der vom Weltgeist, sondern der des Kurators. (Und Kandlhofer jener der Galerie.)
Um nichts weniger als die Menschlichkeit gehts offenbar. Um die großen existenziellen Fragen. Nach dem Was, Wie und Warum. Dem Sein und dem Sinn. Im einführenden Essay von besagtem Kurator, einem in London ansässigen Kunsthändler und -sammler, ist zumindest von Humanismus die Rede. Und von Hegel.
Moment: Hat Karl Marx nicht Letzteren um 180 Grad gedreht? Wie der Baselitz seine eigenen Bilder? Allerdings soll er ihn, andersrum, auf die Füße gestellt haben, weil dieser bzw. dessen Dialektik vorher angeblich einen Kopfstand gemacht hatte. Und das war dann der dialektische Materialismus. Wurscht. Ich spreche sowieso bloß Kärntner Dialekt. Während die sieben ausgewählten Positionen (wobei die der sexy KI nicht eigens mitgezählt werden, deren "Stellungen") die universelle Sprache der Kunst beherrschen. Und die ist ja meist nonverbal. Wenngleich polyglott. Von Skulptur über Malerei, Fotografie und Collage bis hin zu Film und Performance findet sich in der aktuellen Präsentation beispielsweise alles.
Der Tod ist halt zeitlos
Begrüßt wird man gleich einmal – wortlos – von zwei theatralisch arrangierten Marmorköpfen, die einem irgendwie bekannt vorkommen. Aus der Kunstgeschichte. Keine Porträtköpfe freilich. Oder keine herkömmlichen, weil schon reale Physiognomien, doch erstens einbandagiert (he, wie der sterbende Marat auf dem ikonischen Ölgemälde von Jacques-Louis David, nur dass Marats turbanartiger Wickel nicht die Augen bedeckt hat) und zweitens sind die mit ihrer porzellanenen Glätte fast zerbrechlich anmutenden Köpfe brutal abgeschlagen, von einem potenziellen Rumpf getrennt worden.

Marat hat den Kopf verloren. (Oder eigentlich den Rest seines Körpers.) Reza Arameshs Kopfstudie aus Carrara-Marmor erinnert nämlich frappant an Jacques-Louis Davids "Tod des Marat" (1793). Nur eben auf dem Trockenen und nicht in der Badewanne.
- © Studio of Reza ArameshPassenderweise war dieser Jean Paul Marat ein berüchtigter Rübe-ab-Fanatiker, der übrigens deshalb viel in der Wanne gesessen ist (wo er schließlich erstochenen worden und nicht etwa ertrunken ist – kein "Badeunfall" demnach), weil ihn der Juck reizte und seine Haut dauernd ausschlug (oder so). Zum regelrechten Märtyrer der französischen Revolution hat der klassizistische Maler das von einer Adeligen ermordete Mitglied des Nationalkonvents stilisiert. Reza Aramesh nun, in Großbritannien werk- und wirkender Iraner, hat den Horror der Gegenwart, hat Krieg und Terror durch eine vergangene Ästhetik gefiltert, die Drastik der medialen Bilder durch die klassische Schön- und Erhabenheit sublimiert, in die Zeitlosigkeit entrückt.
Der langgestreckte, schmale Antiktisch, auf dem er die Opfer platziert, "dargebracht" hat, wird zum Altar und das Ganze stimmig abgerundet von einem – natürlich eckigen (viereckigen) – Schüttbild von Hermann Nitsch, das im Hintergrund blutrot das Retabel dieser "Kapelle" gibt. Der Schlossherr von Prinzendorf war ja generell gut darin, Räume zu "heiligen".
Das Blut der Malerei: Farbe
Aramesh mag an den weißen Stein nicht selber Hand (und Meißel) angelegt haben, sondern die endgültige Ausführung an eine Werkstatt in Carrara, "der" toskanischen Marmor-Stadt, delegiert haben (was die Skulpturen nicht weniger ausdrucksstark macht), "eingewickelt" hat er seine Freunde und Bekannten dagegen eigenhändig. Für die fotografischen Vorlagen. Und die Gipsversionen, die über die Galerie-Räumlichkeiten verstreut sind, hinter Pfeilern und in Ecken lauern und die Besucher wie latente Kopfschmerzen durch die gesamte Schau begleiten, sind eh komplett von ihm.

Einblick in Bjorn Sterns "Weltgeist". Links unübersehbar rot: Schüttbild mit Malhemd (2009) von Hermann Nitsch.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie KandlhoferEine kopflastige Ausstellung? Vielleicht. Die Sinnlichkeit kommt dennoch nicht zu kurz. Abgesehen davon, dass der Künstler die Köpfe weich und behutsam auf . . . Schmutzwäsche gebettet hat. Auf verdreckte weiße Socken und Unterhosen, intime Verweise auf den Rest der Physis, auf die Kreatürlichkeit des Daseins, die nackte Existenz. Empathisch in unmittelbarer Nähe dazugehängt: ein besudeltes und mit ausgebreiteten Ärmeln an die Leinwand gekreuzigtes Malhemd des Orgien-Mysterien-Theatralikers und Richard Wagner des Aktionismus, der, seiner eigenen heidnisch katholischen Liturgie folgend, gern den Lebenssaft aus vollen Kübeln vergossen hat, sowohl den der Schweine (Blut) als auch den der Malerei (Farbe). (Augen verbunden hat er ebenfalls, der Nitsch. Die seiner Akteure.)
War Pygmalion der Erfinder der Sexpuppe?
Zum Tod gesellt sich das Leben, zum Thanatos der Eros. Und dieser materialisiert sich hier als Sexpuppe. Aber ausnahmsweise als eine mit Verstand. The Next Generation. (Und sicher nicht the last.) Nicht einfach eine willige Luftmatratze mit Brüsten und Loch, der das paarungsbereite Männchen erst den Odem des Liebens einblasen muss, bevor sie funktionstüchtig ist.

Der ganz normale Horror einer zukünftigen Gegenwart: "Coexist", 2022. Performancekünstlerin Arvida Byström im Partnerlook mit ihrem KI-Zwilling.
- © Arvida ByströmDie schwedische Performerin Arvida Byström, die seit längerem den Schönheitsbegriff empirisch und mit vollem Körpereinsatz erforscht, hat sich also eine lebensgroße Gespielin (für ihre Aktionen vor Publikum und ihre performativen Inszenierungen) nach ihrem eigenen Ebenbild erschaffen. Oder bei einer auf erschreckend realistische humanoide Geschlechtsverkehrsandroiden spezialisierten Firma bestellt. Und Harmony getauft.

"Pietà" (2022): Arvida Byström betrauert ihr künstlich intelligentes Ebenbild. Religiöser Narzissmus? Und fehlt da nicht irgendwas?
- © Arvida ByströmMit ihrem optimierten Silikon-Klon, der mit künstlicher Intelligenz, "echter" Mimik und perfektionierten oberen sekundären Geschlechtsmerkmalen ausgestattet ist, verschmilzt die Künstlerin zu einem siamesischen Zwillingsmonster (Wo hört der Mensch auf und beginnt die Puppe?) oder posiert mit einer enthaupteten Harmony auf dem Schoß als tragikomische Pietà. Beweint in diesem "Doppelporträt" (und in bewährt christlicher Ikonografie) quasi sich selbst, ihr verbessertes Ich. Der Pygmalion- und Narziss-Mythos amalgamieren zu einer Zukunftsvision, deren rosige Farbtöne trügen.
Pygmalion? Gewissermaßen der Erfinder der Sexpuppe. Modell Galatea. Sein Spielzeug war ihm freilich zu frigide, weil er es dummerweise aus Elfenbein gehauen hatte. Respektive hat er sich in seine bildhauerische Schöpfung plötzlich verliebt. Und weil die Spielgefährtin nicht interaktiv, sprich nicht entgegenkommend war und es noch keine Batterien gab, bat er die Liebesgöttin Aphrodite, sie Fleisch werden zu lassen. Und Narziss, das ist bekanntlich dieser unglücklich in sich selbst verknallte Jüngling. Die Künstlerin als autoamouröse Schöpfergöttin?
Die Apokalypse aus der Vagina
"The End of the World" (das Ende der Welt): ein freizügiger Unterleibs-Akt. Harmony spreizt die Beine und Byström hält mit der Kamera (und dem Scheinwerfer) drauf. Man darf an ein legendär skandalöses Intimporträt aus dem 19. Jahrhundert denken, und selbst wenn man nicht dürfte, müsste man unweigerlich. 1866 hat Gustave Courbet ja mit dem Pinsel zwischen lasziv geöffnete Schenkel gespechtelt. "LOrigine du monde" (der Ursprung der Welt) heißt Courbets meistverstecktes Werk. (Nicht, dass es sich dabei um die Darstellung eines weiblichen Schöpfungsmythos handeln würde, einer notgeilen Fruchtbarkeitsgöttin, der Großen Mutter womöglich, dieser Magna Mater. Feministisches Andachtsbild eines fanatischen Anhängers des Matriarchats ist das keins.)

Man beachte die Mitte: Arvida Byströms Silikon-Klon Harmony spreizt kunsthistorisch die Beine und kündigt "The End of the World" an.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie KandlhoferHeutzutage ist das beste Versteck klarerweise – Facebook. Wer ein Foto des Gemäldes postet, dessen Konto wird umgehend gesperrt und keiner kann das Bild mehr sehen. Byström ergeht es mit ihren fotografischen Arbeiten ähnlich. Hat in den sozialen Netzwerken mit der Zensur zu kämpfen. Und aus der Schöpfungsgeschichte wird bei ihr (bei praktisch demselben Motiv) eine apokalyptische Prognose. Die unfruchtbare Sexpuppe als evolutionäre Sackgasse der nach unnatürlicher Perfektion strebenden Menschheit?
Die Nase einlochen
Auf einem bühnenhaften Podest sitzt sie leibhaftig da, "in Person", die Harmony. Hat ihren Kopf wieder auf (und ein Hoserl an). Irritiert mit ihrer "Menschlichkeit". Bei der Vernissage, auf der sie fleißig Fragen beantwortet hat, ist sie gar sexuell belästigt worden, die nicht ganz jugendfreie Robo-Traumfrau, ist es vonseiten der allzu neugierigen Gäste zu Übergriffen gekommen. Mehrmals ist ihr das Leiberl (mit der Aufschrift "Virgin Birth" – jungfräuliche Geburt, was ja tatsächlich der Wahrheit entspricht) hochgeschoben worden. Zwecks Überprüfung ihrer anatomischen Korrektheit?

Steckt da etwa einer seine Nase in die Orgien des Marquis de Sade rein? Ja. Der John Robinson.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie KandlhoferApropos Loch. Guckloch. So eins macht der gebürtige Ire John Robinson in die Alten Meister rein. In deren Werke. Meisterwerke. Und nicht allein eins. Gleich vier auf einmal. Zwei für die Augen, eins für die Nase, eins für den Mund. Maskiert sich als das Bild eines anderen. Tritt als Person hinter dem fremden Namen und Opus zurück. Witzig originell, diese voyeuristische Form des – gemalten – Selbstporträts.

John Robinson hat bei Diego Velazquez' rätselhaften "Las Meninas" den Durchblick. ("Seance", 2022.)
- © John RobinsonUnd wenn er hinter "Las Meninas" (Die Hoffräulein) von Diego Velázquez in Deckung geht, einem der vermutlich rätselhaftesten Malerselbstbildnisse überhaupt (Maler mit spanischem Hofstaat – "porträtselhaft" halt), und das nasale Pendant seiner Männlichkeit hineinsteckt (Wie die Nase eines Mannes, so sein Ehschowissen), hat das direkt was von einer Penetration. Ist auf alle Fälle recht penetrant.
Daneben nimmt er sich auch noch reihenweise die Illustrationen zu den radikalobszönen Fantasien des Marquis de Sade vor, mischt mit seiner Gesichtspotenz kräftig bei den sadistischen Orgien mit. Und weil er den totalen Durchblick hat, den Betrachter, die Betrachterin beim Zusehen ertappt, stellt sich die Frage: Wer ist da der Schaulüstling? Ein komplexes Spiel mit dem Blick und mit Humor.
Ein goldenes Händchen haben und halten
Poetisch: die subtile, bisweilen zärtliche Gebärdensprache in Janine Antonis malerischen Fotografien. Im Wasser, dem Element der Reinigung, finden die wertschätzend vergoldeten Handflächen ihrer dement gewordenen Eltern zur vertrauten Zweisamkeit zueinander. Händchenhalten im Fluss des Vergessens, die Präsenz des Schwindenden. Ein gestisches "Aquarell" wie eine Liebeserklärung. Berührend in doppelter Hinsicht. Noch dazu wird das Flüchtige vom Goldrahmen, der sich an diverse Knochen erinnert, wie von einem Skelett gestützt.

Die vergoldeten Hände der Eltern der Künstlerin erinnern sich im Wasser, das bekanntlich ebenfalls ein Gedächtnis hat, zärtlich aneinander. "I Conjure up" (2019) von Janine Antoni.
- © Christopher BurkeDas Gold, das den Brustkorb der Künstlerin rahmt, während diese die wiederum vergoldeten Hände in die eigenen Rippen presst, hat sogar ein Rückgrat, eine Wirbelsäule, die das Bild zweiteilt. Bei sich selber packt Antoni merklich fester zu, als versuche sie verzweifelt, sich selbst zu begreifen, sich ihrer selbst zu vergewissern, ihrer Leiblichkeit. Fleisch und Knochen – dem Basalsten, Elementarsten wird mit dem Edelmetall der nötige Respekt erwiesen.
Die Zeitmaschine trägt Schnürlsamt
Wer eine Pause braucht, kann sich ein bissl in der guten, alten Zeit ausruhen. In einer Zeitmaschine Platz nehmen, die einen ins vorige Jahrhundert zurückbringt. Okay, der Kurator hat beim Altwarentandler ein Fauteuil mit 70er-Jahre-Flair (mit Schnürlsamtbezug) besorgt, weiters einen Teppich (nein, der fliegt nicht in die Vergangenheit, er ist längst dort – designmäßig) und eine Topfpflanze, um eine geradezu antiquarische, gemütliche Wohnzimmer-Ecke zu installieren. Als Ambiente für zwei bildgewaltige Filme des chilenischen Kultregisseurs Alejandro Jodorowsky, die dann auf einem leider flachbrüstigen, weil modernen Flatscreen laufen, statt auf einem authentischeren Röhrenfernseher.
Die mögen wenig entspannend, weil ziemlich anspruchsvoll und surreal sein ("The Holy Mountain" von 1973, wo die Erleuchtung an der falschen Stelle gesucht wird, nämlich auf einem heiligen Berg, obwohl die Reise nicht nach oben führen sollte, sondern in die Tiefe, ins eigene Innere, und der Eso-Schocker "Santa Sangre" aus dem Jahre 1989), doch dafür sitzt man immerhin bequem. Aus den 1970ern grüßen die mystisch spirituellen Collagen von Penny Slinger gleichfalls herüber. Tiermenschen, Schlangen, kosmische Huldigungen. Bunt, dicht, tantrisch.
Ein intensives, vielstimmiges Programm, das schrill werden kann bis zur Ekstase, ohne dass die stilleren Töne freilich untergehen würden.

Was läuft im Fernsehen? Im Moment nix, weil die Zeitmaschine grad nicht eingeschaltet ist. Kurator Bjorn Stern hat für die gemütliche Reise in Alejandro Jodorowskys surreale filmische Visionen einen alten Sessel und ein paar andere Requisiten besorgt.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy: Galerie Kandlhofer