Bekanntlich ist die Welt eine Kugel. Und die Kunst, um die es hier geht, ist eben sehr weltlich. Nein, sie kugelt nicht herum, ist durchaus ordentlich aufgehängt, aber rund ist sie. Gut, ein bissl weltfremd vielleicht trotzdem. Nämlich abstrakt. Sooo abstrakt allerdings eh auch wieder nicht. Das Runde muss jedenfalls wieder einmal ins Eckige. Dasjenige von der Uta Weber also in die Wiener Innenstadtgalerie Smolka Contemporary, das Bunte in den White Cube.

"Plastik" kündigt der Ausstellungstitel lapidar an und hält sein Versprechen gleich doppelt: Plastik, das und die. Beides gleichzeitig. Genderfluid quasi. Die geschlechtsneutrale Version, kurz jenes verpönte, allgegenwärtige Material, das irgendwann die Weltherrschaft ergriffen hat (und seither leben wir nimmer auf dem Blauen Planeten, sondern auf dem Plastic Planet), und zugleich "Plastik, die", Femininum, ein Synonym für Skulptur, die in dem Fall sogar zufälligerweise (oder nicht zufällig, weil mit voller Absicht) aus Plastik besteht (mehr oder weniger). 

Der Stoff, aus dem die Kunst ist - Kunststoff

Nicht, dass die mittlerweile in die Steiermark übersiedelte Deutsche, die unter anderem Meisterschülerin in Timm Ulrichs Klasse für Totalkunst gewesen ist, jetzt als Bildhauerin eine "plastische Chirurgin" wäre. Obwohl: Präzisionsarbeit ist ihr Werk ebenfalls, wenn sie etwa der planen Wand geradezu weibliche Rundungen verpasst. Makroplastik. Kugelsegmente. (Wobei jede Rundung streng genommen weiblich ist: Rundung, die.) Um Flachware handelt es sich bei dem, was sie macht, folglich definitiv nicht. Selbst ihre Punkte sind mindestens 2,5-dimensional, wenn sie nicht überhaupt in 3D sind.

Wand mit sexy Rundungen. Letztere sind zwar wie Autos lackiert (mit Autolack), um sie anzuschauen braucht man aber trotzdem keinen Führerschein. "Lady Bump" (2018/2022) von Uta Weber. 
- © Smolka Contemporary

Wand mit sexy Rundungen. Letztere sind zwar wie Autos lackiert (mit Autolack), um sie anzuschauen braucht man aber trotzdem keinen Führerschein. "Lady Bump" (2018/2022) von Uta Weber.

- © Smolka Contemporary

Kunststoff ist da halt einmal tatsächlich der Stoff, aus dem die Kunst ist. Moment: Sind die Sachen dann nicht umweltschädlich? Muss man nicht ein schlechtes Gewissen haben, wenn man sich die anschaut? Nein, warum? Ist doch erstens, wie gesagt, Makroplastik und zweitens dürfte es recht unwahrscheinlich sein, dass das jemand wegschmeißt und es am Ende ins Meer gelangt und dort zum bösen Mikroplastik zerfällt. Außerdem sind die Objekte obendrein noch das, was sich auf "rund" reimt: g’sund. Sind Antidepressiva ohne Nebenwirkungen. Hellen mit ihren ansteckend fröhlichen Farben die Stimmung auf. (Was leider nicht bedeutet, ein Psychiater könne sie einem verschreiben und die Krankenkassa würde dafür nachher finanziell aufkommen und man hätte schlimmstenfalls einen geringen Selbstbehalt zu bezahlen.) 

Popstract Art? Abstrakte Pop-Art!

Ästhetisch fühlt man sich ein wenig in die 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückversetzt, in die Zeit der Kindheit und frühen Jugend der Künstlerin, die, 1966 in Leverkusen geboren, in selbiger Industriestadt gleichsam mit der angeblich größten Leuchtreklame auf Erden aufgewachsen ist, sprich mit dem Bayer-Kreuz, dem imposanten Logo eines Chemie- und Pharmakonzerns, für den zudem ihr Vater gearbeitet hat. He, der mit sich selbst gekreuzte Firmenname (das eine Mal waagrecht und das andere senkrecht hingeschrieben) ist eingekreist, von einem weithin sichtbaren Leuchtkreis umgeben. Womit ich nicht behaupten will, Weber wäre von klein auf aufs Runde geprägt worden. (Wie die Gänseküken dem nachrennen, was sie nach dem Schlüpfen als Erstes sehen.)

G'schmackig, die Liebesperlen, die seit 2009 (dem Entstehungsdatum dieses Werks von Uta Weber) nicht müde werden, eine polychrome Zucker-Orgie zu feiern. 
- © Smolka Contemporary

G'schmackig, die Liebesperlen, die seit 2009 (dem Entstehungsdatum dieses Werks von Uta Weber) nicht müde werden, eine polychrome Zucker-Orgie zu feiern.

- © Smolka Contemporary

Und wie sind ihre glossigen Kugelsegmente einzuordnen, die sich dem Betrachter/der Betrachterin mit ihrer sinnlichen Glätte und poppigen Palette ziemlich sexy entgegenwölben und ihm/ihr eine knallen? (Knallfarben, hallo?) Söhnt sich die Pop-Art womöglich mit der einstigen Widersacherin, der abstrakten Kunst, aus, gegen die sie anfangs mit ihren kommerziellen Bildern aus der grellen Konsumwelt revoltiert hat? Die beiden fusionieren regelrecht. Eine abstrakte Pop-Art demnach? "Popstract" Art? Eine geometrisch abstrakte? Die oft eher "verkopfte" (Weber) Abstraktion wird anscheinend ins Reich der Sinne zurückgeholt. Weber: "Sie sollen schon Lust machen." Konkret: die g’schmackigen Dinger. Und worauf? Sie abzuschlecken? Schließlich erinnern sie vielfach an Zuckerln. Haben generell was von Süßigkeiten, sind Schleckereien fürs Auge.

Die Urenkerln des Blob

Und die Farbflecken mit den Bläschen? (Irgendwas Biomorphes. Ein primitiver Organismus.) Keine Angst, die tun nix. Die heißen bloß wie dieser außerirdische, menschenfressende Schleimer aus dem Grusel-Klassiker. Wie der Blob. Das ist dieses form- und gesichtslose glibberige Alien, das mit jeder Mahlzeit voluminöser wird, an Substanz zulegt wie der süße Brei im Märchen, wo die Köchin blöderweise vergessen hat, wie man diesen selbstkochenden Topf (ach, einer von Tesla?) wieder abstellt, nachdem man ihn mit dem Kommando "Töpfchen, koch!" sprachaktiviert hat. (Nur dass besagtes Kochgeschirr beim Versuch, den Welthunger und nicht den eigenen zu stillen, beinah die gesamte Welt verspeist hätte.) Als ich mich den putzigen Enkerln (oder Ur-Enkerln) des von Steve McQueen 1958 entdeckten Ur-Blob vorsichtig mit dem Finger genähert habe, haben diese blubbernden Kleckse zumindest nicht danach geschnappt.

Außerirdisch geil: Wer hat Angst vorm "Yellow Blob"? Ein Verwandter "des" Blob aus dem Kino der späten 1950er Jahre? Uta Weber hat ihn jedenfalls gewissenhaft und liebevoll aus Epoxidharz gegossen. 
- © Uta Weber

Außerirdisch geil: Wer hat Angst vorm "Yellow Blob"? Ein Verwandter "des" Blob aus dem Kino der späten 1950er Jahre? Uta Weber hat ihn jedenfalls gewissenhaft und liebevoll aus Epoxidharz gegossen.

- © Uta Weber

Zu 100 Prozent ungegenständlich ist Webers "popstrakte" Kunst freilich sowieso nicht. Überall Echos von konkreten Gegenständen, die ein Naheverhältnis zur Geometrie haben und bis zum Minimalismus reduziert werden, und Bezüge zur dinglichen Realität, zur Populärkultur. Ungefähr 150 pingpongballgroße "Liebesperlen" (mit Kunststoff und Lack "dragierte" Styrodur-Kugerln) feiern auf der Kalotte einer noch riesigeren "Perle" eine farbenfrohe Orgie, verdichten sich zur zuckrigen Polychromie. Zur Devotionalie, die man, als wäre man eine geschrumpfte Alice, andächtig bestaunen kann. 

Wenn der Argus high ist

Andere sphärische Wölbungen, die wie Autos lackiert, weil mit demselben schützenden Überzug beschichtet sind wie der Fetisch der Fortbewegung, verweisen mit ihrem Happy-Sound der Farbtöne auf einen Pop-Song ("Lady Bump"), "den" Disco-Hit von Penny McLean, mit dem diese 1975 wochenlang die hiesigen Charts und die unserer deutschen Nachbarn angeführt hat. Eine Britin? Falsch. Eine Kärntnerin. Eine gebürtige Gertrude Wirschinger.

Und der "Bump"? Englisch für Beule, Höcker, Buckel? Das Grün, das Gelb, das Rot und das Blau täten ja wirklich "buckeln", picken wie eine schrille Akne auf der weißen Wand. Gemeint ist dennoch der leichte Zusammenstoß bzw. der gleichnamige einstige Modetanz, der auf einem solchen beruht, zumal beim Bump Gesäß oder Hüfte der Tanzpartner (rundliche Körperteile, wohlgemerkt) im Rhythmus der Musik aufeinanderprallen. In der neunteiligen Installation kollidiert aber zugegebenermaßen nichts. Die reckt einem ihre "Beulen" allerdings wie knackige Popscherln entgegen. Hm.

Variationen zu einem Thema. Zu welchem? Schaulust? Psychedelische Argusblicke. Oder schlicht 3D-Punkte. ("Little Dots", 2021/2022, von Uta Weber.) Süß wie Zuckerln. 
- © Smolka Contemporary

Variationen zu einem Thema. Zu welchem? Schaulust? Psychedelische Argusblicke. Oder schlicht 3D-Punkte. ("Little Dots", 2021/2022, von Uta Weber.) Süß wie Zuckerln.

- © Smolka Contemporary

Ständig hat man das Gefühl, man würde beobachtet. Mit Argusaugen. Okay, der Allesseher aus der griechischen Mythologie, dieser Argus, hat 100 Sehorgane gehabt (und nie mehr als ein paar davon beim Schlafen zugemacht – oder "paar" mit großem P?), die Galerie hingegen hat lediglich 66. 64 von der Künstlerin und zwei von der Galerieaufsicht. Dafür verfügen die 64 über keine Lider, blinzeln nicht. Acht mal acht psychedelische Blicke starren einen hypnotisierend mit bunten Pupillen an, und die Iris hat sichtlich einen Drehwurm, wird konzentrisch umkreist.

Andererseits sind diese handlichen Glupschaugen, diese Wanddippel, als "Little Dots" aufgelistet. Plastische Punkte in allen möglichen koloristischen Variationen als analoge, haptische Antwort auf den digitalen Pointillismus, auf die vielen Pixel und die theoretisch nulldimensionalen sonstigen Punkterln, die durch den virtuellen Raum des Internets schwirren und in E-Mail- und Web-Adressen landen? 

Ein Pudel ist innen ja auch nicht hohl

"Nichts ist hohl", stellt Uta Weber klar. Obzwar ihre Plastiken "so oberflächlich" wirken würden, sei es ihr "ein Anliegen, dass die einen Körper haben. Die haben auch ein Gewicht". Nachsatz: "Das wäre komisch, wenn die leicht wären." Der Pudel hat sozusagen einen Kern. Im Grunde klassische Bildhauerei mit modernen Materialien. Styrodur, Polyurethan, Hartfaserplatten, Epoxidharz. Weber fräst, schneidet, schmirgelt, gießt, versieht die modellierten Formen mit einer farbigen Fassung, einer brillanten Patina aus Autolack zum Beispiel. Werkstätten konsultiert sie durchaus (den Autolackierer . . .), Sachen wie ihre "Dots" macht sie jedoch lieber "komplett selber", weil sie so "an den Farben näher dran" sein kann. Gießt sie in einem aufwändigen Arbeitsprozess in mehreren Etappen.

Von Uta Webers "Circles" (2019) fühlt man sich irgendwie beobachtet. 
- © Smolka Contemporary

Von Uta Webers "Circles" (2019) fühlt man sich irgendwie beobachtet.

- © Smolka Contemporary

Wie Sitzkissen (50 mal 30 mal 10 Zentimeter) liegen die drei vergleichsweise eckigen "Gums", deren Ecken und Kanten aber immerhin abgerundet sind, auf dem Boden herum. Erd- und der Schwerkraft verbunden. Die könnten fast aus Stein sein. Aus weißem Marmor gemeißelt. Ohne dass sie mit ihrem unbunten Understatement und der inneren Ruhe und Trägheit, die sie ausstrahlen, gegenüber der poppig extrovertierten Konkurrenz abstinken würden. Im Gegenteil. Mit ihrem authentischen seidig matten Finish dünsten sie förmlich eine minzige Aura aus.

Und wenn das Auge auch mitkaut und mitschmatzt, wie es sonst gern mitisst, müsste es eigentlich früher oder später zu trenzen anfangen, müssten einen die Mega-Dragée-Kaugummis bei zeitintensiverer Betrachtung (und je ausdauernder man diese Pölster aus beschichtetem PU in Gedanken mit den Zähnen aufschüttelt) zu Tränen rühren. Und passenderweise wird die handelsübliche Kaumasse ebenso auf Kunststoffbasis erzeugt. So schließt sich der Kreis (selbst der mit den abgerundeten Ecken). 

Marktschreierisch introvertiert

Alltägliches im XL-Format – hat das der im Vorjahr verstorbene Claes Oldenburg, Pop-Artist der ersten Stunde, nicht mit Federbällen, Burgern oder Schweizer Messern genauso gemacht? Na ja, ins Monumentale gesteigert halt. Zur Gigantomanie aufgeblasen.

Die marktschreierische Sprache der Pop-Art und die introvertiertere des Minimalismus hat Uta Weber verbandelt und ins Zeitgenössische übersetzt. Leicht konsumierbare Kunst in appetitlicher Perfektion, die einem nachher bestimmt nicht schwer auf der Netzhaut liegt.