Vom Horsd’oeuvre kann man eben nicht unbedingt auf den Hauptgang schließen. Als Appetizer wird einem von der Galerie nächst St. Stephan nämlich die analytische Arithmetik serviert. Also gleich einmal die Rechnung. Okay, die Bruchrechnung. Ein Vierterl, ein Achterl . . .

Nein, kein Wein, vielmehr klare Verhältnisse. Mathematische Ordnung. Man schaut jedenfalls nicht ins Glas, sondern hindurch. Durch die Scheibe des Logins, des ebenerdigen Schaufensterraums. Und erblickt eine Tafel, womit wiederum kein festlich gedeckter Tisch gemeint ist, dafür die "Tafel F" der "Null Bild Serie" vom Helmut Federle. (Nicht, dass sich die "außerhalb des Werkes" – so die wörtliche Übersetzung von "Horsd’oeuvre" – befinden würde. Sie gehört schon dazu, zu seinem malerischen Oeuvre.) Acryl (und Geometrie) auf Aluminiumplatte. Übersichtlich und präzise hebt der Maler Bruchteile der Gesamtfläche hervor. 

Elegische Ursuppe

So streng geht’s im zweiten Stock definitiv nicht weiter. Gut, immerhin macht man einen nicht unbeträchtlichen Zeitsprung von fast 30 Jahren. Aus den 1990ern in die Gegenwart. Auch wenn man Stiegen steigt und nicht direkt "springt". Das einzig Geometrische an den aktuellen Arbeiten des in Wien ansässigen Schweizers (1944 in Solothurn geboren) ist das Rechteck der Leinwand. Der Rest ist beschauliche Action. Melancholische Düsternis. Ein abstrakter Stimmungsexpressionismus eventuell, der ziemlich impressionistisch daherkommt. Und elegisch.

"Bird Migration at Azusa-Gawa River in Winter" (2022) - laut dem Titel, den der Helmut Federle seinem Opus, einem regelrechten Feuchtgebiet, gegeben hat, gibt's da viel Natur. Auf jeden Fall erzählt das Bild von der Natur der Malerei. Mindestens. 
- © Helmut Federle und Bildrecht Wien, 2023, Courtesy: Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Foto: Markus Wörgötter

"Bird Migration at Azusa-Gawa River in Winter" (2022) - laut dem Titel, den der Helmut Federle seinem Opus, einem regelrechten Feuchtgebiet, gegeben hat, gibt's da viel Natur. Auf jeden Fall erzählt das Bild von der Natur der Malerei. Mindestens.

- © Helmut Federle und Bildrecht Wien, 2023, Courtesy: Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Foto: Markus Wörgötter

In Raum eins beginnt es zumindest noch relativ unspezifisch, brodelt die Ursuppe. Fusionieren Acrylfarbe und pflanzliches Öl zu einem undeutlichen Murmeln, zum Gebrabbel vor dem ersten schöpferischen "Es werde . . .". Bezeichnenderweise entführt einen ein Opus der "Informal Multitudes"-Serie in die Abteilung des Unbestimmten und Ungewissen ("Section of the Indefinite and Uncertain").

Später sind es zwar ebenfalls im Grunde nichts weiter als Flecken und Gesten, allerdings sehr landschaftlich verteilt. Abstrakte Gefilde, die einem nur wie Landschaften vorkommen? Einem diese lediglich suggerieren? Dass es sich tatsächlich um welche handeln könnte (oder um mehr oder weniger vage Erinnerungen daran, um Annäherungen, geweckte Assoziationen), darin wird man von den äußerst konkret werdenden Bildtiteln sogar noch bestärkt: "Blume und Baum." Oder Zugvögel landen angeblich an einem winterlichen japanischen Fluss ("Bird Migration at Azusa-Gawa River in Winter"). Zwangsläufig sucht man im gestischen Dickicht nach besagten Gewächsen und Vogerln, interpretiert die Kleckse und Striche dementsprechend. Glaubt mehr dem Wort als den eigenen Augen. Die bunten Farben machen sich dabei rar, ein Gelb schiebt sich als topografischer Akzent, als Insel oder gegenüberliegendes Ufer in ein wässriges Weiß hinein. 

Die Malerei bewässern, damit sie gedeiht

Ein im poetischsten Sinne des Wortes "lyrisches" Informel: Helmut Federles "Informal Multitudes (Schilflied)", 2022. Schilflied - wie das, was sich der Nikolaus Lenau in Versen zusammengereimt hat? 
- © Helmut Federle und Bildrecht Wien, 2023, Courtesy: Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Foto: Markus Wörgötter

Ein im poetischsten Sinne des Wortes "lyrisches" Informel: Helmut Federles "Informal Multitudes (Schilflied)", 2022. Schilflied - wie das, was sich der Nikolaus Lenau in Versen zusammengereimt hat?

- © Helmut Federle und Bildrecht Wien, 2023, Courtesy: Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Foto: Markus Wörgötter

"Corrected Seaside in April" (eine berichtigte Küste?): Verwirbelungen am mutmaßlichen Himmel reiten einen Sturm. Während sich das lyrische Informel ein andermal offenbar ganz der Schwermut hingibt – mit einem Verweis auf die "Schilflieder" von Nikolaus Lenau, jenen Gedichtzyklus, wo ein Liebeskranker an einem Teich im Einklang mit der aufgewühlten Natur vor sich hin leidet. "Quill, o Träne, quill hervor!" Und dann fängt‘s auch noch zu regnen an. Das lyrische Ich klagt dem Leser sein Leid, der Wind dem lyrischen Ich das seine. Das Schilfrohr erbebt. Beim Federle, der übrigens bis 2007 an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf unterrichtet hat, verhält es sich dagegen vergleichsweise ruhig, das Schilf.

Ist da etwa jemand plötzlich auf seine alten Tage ein Romantiker geworden, der seine triefend nassen Seelenlandschaften vor seinem Publikum ausbreitet? Denn "Feuchtgebiete" (aquarellige) sind seine Bilder genauso, die er fleißig bewässert (nein, nicht mit seinen salzigen Tränen, mit Süßwasser), auf dass die Malerei gedeihe. (Soll unter anderem heißen, dass der Federle die Farbe gern dünnflüssig aufträgt.) Oder ist Malen schlichtweg "natürlich"? Auf alle Fälle ist es ein Schöpfungsakt. Wobei dieser malende Schöpfer sichtlich ein Chaosdompteur ist, das Chaos bändigt, während er es selbst erschafft, und am Ende gebiert es eine lebendige Ordnung, die unbeständig ist wie das Wetter. 

Das Geben nimmt, das Werden vergeht

Alles ist permanent im Wandel, in Bewegung, und der Entstehungsprozess scheint nach wie vor im Gange, noch nicht abgeschlossen zu sein. Ein dauerndes Geben und wieder Nehmen, ein Wischen (mit dem Fetzen) und Waschen, bis das Werden und Vergehen irgendwann untrennbar verschwimmen. Derweil verrinnt die Farbe wie die Zeit. Förmlich hineinköpfeln will man in den Nuancenreichtum, damit er sich einem enthüllt. Und muss man. Sprich tiefer eintauchen. Weil aus der Ferne entgeht einem womöglich die halbe Show.

"Corrected Seaside in April" (2022, Acryl auf Leinwand): Entweder stürmt es da über dem Meer oder einfach in Helmut Federles Malerei. 
- © Helmut Federle und Bildrecht Wien, 2023, Courtesy: Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Foto: Markus Wörgötter

"Corrected Seaside in April" (2022, Acryl auf Leinwand): Entweder stürmt es da über dem Meer oder einfach in Helmut Federles Malerei.

- © Helmut Federle und Bildrecht Wien, 2023, Courtesy: Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Foto: Markus Wörgötter

Nach intimer Nähe verlangt die "Nachspeise" sowieso. Blätter der "Stockholm"-Serie aus den frühen 1990er Jahren, wo die Fettkreide eine leise Ahnung hat, nämlich von einer groben Oberfläche, einer unscharfen, körnigen Struktur.

Angenehm luftig ist die Ausstellung gehängt. Die Wand neben der Eingangstür bleibt gar frei. Nicht für eigene Notizen, i wo. Für die Leere! In die kann man jetzt theoretisch hineinmeditieren, wenn man sich vielleicht fragt, was es mit dem Titel der Schau auf sich hat: "Acknowledgement." Das kann schließlich so einiges meinen: Anerkennung, Bestätigung, Zurkenntnisnahme, Danksagung . . .