Milonga? Was ist denn das schon wieder? Eine Stadt? Eine Insel irgendwo in der Einsamkeit oder der Karibik? Ein Fluss? Ein Tier, so exotisch, dass nicht einmal der Tiergarten Schönbrunn ein Exemplar besitzt? Was zum Essen oder Trinken? Falsch. (Außerdem wäre Letzteres eine Melange.) Ein Tanz vielmehr. Nach dem ist die sehr weiße Schau im Loft 8 also benannt.
Nicht, dass es hier um die "fröhlichere Schwester des Tangos" ginge. Fröhliche-re, wohlgemerkt. Nicht unbedingt fröhliche. Wenngleich die Tänzer angeblich lächeln. Aber kann man mit einem Lächeln im Gesicht nicht genauso traurig sein wie mit Tränen ebendort? Stichwort: Sonnenregen. Während in jedem Tango freilich, einem Ausspruch zufolge, ein Argentinier stirbt, müsste demnach in jeder Milonga einer . . . überleben.
Gips und Wolken: Was Weißes mit Wasser drin
Zur vergleichsweise beschwingten Milonga gehören jedenfalls zwei. Wie zu einer Doppelausstellung. Und welche zwei Kulturkreise hat Kuratorin Alexandra Grimmer diesmal gepaart? (Nach China und Europa, Ost und West, Han Feng und Barbara Höller?) Na ja, Deutschland und . . . Österreich. Und die beiden trennt bekanntlich die gemeinsame Sprache.

Stark bewölkt ist es im Loft 8. (Das Wetter macht hier der Philipp Schweiger.) Und der Gips von Elke Härtel ist ebenfalls weiß.
- © kathi moser, Loft 8Wobei: Die Elke Härtel ist eigentlich eh keine Deutsche. Sondern? Eine Bayerin. 1978 daselbst geboren, konkret: in Erding/Altenerding, und mittlerweile hat die Bildhauerin ihr Atelier in München. Und der Philipp Schweiger ist zwar durchaus ein Österreicher (ein Wiener, Jahrgang 1971), allerdings ist er umgezogen. Regelrecht konvertiert. Vom Wiener zum Düsseldorfer womöglich? Schließlich hat er in der Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen Bildhauerei studiert. (Bei Tony Cragg, der wiederum Brite ist. Im Wuppertal ansässiger Brite.) Nein, er ist sozusagen von der Bildhauerei in die Malerei übersiedelt.
Und zusammen tanzen die beiden jetzt, okay, vielleicht keine Milonga, sie bewegen sich eher zum Rhythmus der Stille, die mysteriös und eventuell ein wenig unheimlich ist. Die Sachen der einen stehen zumindest mit verhaltener Dynamik auf Sockeln herum, die des anderen hängen imposant an den Wänden. Zwei hinterfotzig skurrile Gipsskulpturen, beschaulich dramatisch umgeben von gemalten Wolken. He, beides was Weißes, das Wasser enthält! Gips: Calciumsulfat-Dihydrat. Und Wassertröpfchen versammeln sich in der Atmosphäre eben zu diversesten Wolken (die der Philipp Schweiger trotzdem mit hydrophoben Ölfarben festhält und nicht in Aquarellen).
Die Rache des Rotkäppchens

Rotkäppchen würgt den bösen Wolf. Bzw. drückt ihm in der Version von Elke Härtel vielmehr eine gewisse "Eloise" (2013) die Luft ab.
- © kathi moser, Loft 8Lächeln tut vordergründig einmal niemand (wie ein Milonga-Tänzer). Der Gips blickt ernst und konzentriert drein und hinter der ziemlich dichten Bewölkung lässt sich eine lachende Sonne höchstens erahnen. Dafür zieht es dem Besucher, der Besucherin wahrscheinlich die Mundwinkel nach oben. Mei, herzig, das Mäderl, das mit dem Wauzi da spielt. Moment: würgt es den Vierbeiner etwa? Ach so, das ist überhaupt kein Hund. (Ein Vierbeiner natürlich schon. Und zur Familie der Hunde, der Canidae, gehört er streng genommen ebenfalls.)
Weil es sich um einen Wolf handelt. Laut der Schöpferin des Werks, die dieses ursprünglich für einen Märchenpark angefertigt hat, ist das "ein umgekehrtes Rotkäppchen". Oder ein emanzipiertes? Das kein Opfer mehr sein will? Im Original der Gebrüder Grimm frisst der Wolf ja das Rotkäppchen. Als Nachspeise. Nachdem er dessen Großmutter verputzt und deren Nachthemd angezogen hat. Ein Cross-Dresser? Eine Drag-Queen? I wo. Nur zur Tarnung hat er einen auf Oma gemacht. Ein Wolf, ausnahmsweise nicht im Schafspelz, einer im Kleidl. Wurscht. Auf alle Fälle ist an keiner Stelle zu lesen, dass er das Rotkäppchen gefragt hätte: "Ei, Rotkäppchen, was hast du für niedliche Hände (denen man ihre Stärke gar nicht ansieht)?" Und dieses geantwortet hätte: "Dass ich dich besser erwürgen kann."
Stattdessen schneidet ein zufällig vorbeikommender Jäger dem schlafenden Raubtier den Bauch auf und bringt Oma und Enkerl per Kaiserschnitt auf die Welt und ins Leben zurück. Operation gelungen, Patient . . . noch immer nicht tot. Der wird daraufhin mit Makroballaststoffen ausgestopft, sprich innerlich gesteinigt, nachher zugenäht, und nach dem Aufwachen bringt ihn sein implantiertes Übergewicht um. (Ob Märchen eine Form der Kindesmisshandlung sind?) Gemessen an diesem sadistischen Overkill killt Elke Härtels Rotkäppchen den Wolf softly.
"Außerdem lebt er ja noch ein bisschen"

Der Wolf hat keine Chance gegen Elke Härtels Rotkäppchen/Eloise.
- © kathi moser, Loft 8Oder ist die kleine Tochter einer Freundin der Künstlerin nicht für das Rotkäppchen Modell gestanden, sondern für irgendein Kind, das das brutale Märchen als Gutenachtgeschichte gehört und mit dem Guten mitgefiebert hat? Nun das Böse eigenhändig besiegen will? Weil erstens hat die Eloise (so heißt sie und wie sie das Opus) keine Kopfbedeckung auf, lediglich viele Spangerln in den Haaren, und zweitens ist der Wolf zu mager, um soeben eine Großmutter im Ganzen verschluckt haben zu können. Härtel: "Außerdem lebt er ja noch ein bisschen." Stimmt. Bestraft wird er, nicht zwangsläufig abgemurkst. Dennoch wirft die Szene die Frage auf, wer da die Bestie ist: Tier oder Mensch? Besonders, seit der Wolf einen Imagewandel durchgemacht hat und als schützenswert gilt.
Hm. Gips. Noch dazu ist das Rotkäppchen oder Nicht-Rotkäppchen ungefähr lebensgroß. Ein Abguss vom lebenden Modell? Weit gefehlt. Die lebendige Oberfläche zeugt von einem anderen Entstehungsprozess. Einem, wo zuerst alles in Ton geformt wird, das wird in Silikon abgegossen, und erst zum Schluss hat der Gips seinen Auftritt. Und der wirkt dann bloß so fragil, so zerbrechlich. "Er bricht nicht auseinander", klärt Härtel auf. Nicht zuletzt ist er glasfaserverstärkt. Zumal er das endgültige Material ist und nicht ein vorläufiges, eine Vorstufe, die später in Bronze gegossen wird.
Sichtlich mit Gefühl und Hingabe wird die Materie da geknetet, oldschool, um einen emotionalen Moment packend, zupackend, einzufangen (und ihn nicht einfach einzuscannen und vom 3D-Drucker ausspucken zu lassen). Und bei allem Realismus bewahrt sich die Schilderung die Frische und Vitalität einer Skizze.
Die Elefantin im Raum
Kein Wolf kam übrigens während der Herstellung zu Schaden. Die kleine Eloise hatte bei der Fotosession im Atelier nämlich keine Gurgel im Würgegriff, sondern ein Stück Ton. Wir kennen den Trick ja aus der Filmsatire "Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt", wo kurzerhand ein Krieg erfunden und im Filmstudio hollywoodesk gefakt wird, um die Medien und damit die Öffentlichkeit von einem politischen Skandal abzulenken. In einer Szene mimt eine Schauspielerin einen Flüchtling und rettet vor laufender Kamera . . . ein Kartoffelchipssackerl aus den Kriegswirren, aus dem am Ende ein verängstigtes Kätzchen gezaubert wird. Und mit welchen Special Effects hat die Härtel einen Klumpen Ton in einen total glaubwürdig leidenden Wolf verwandelt? Mit bloßen Händen.

Nachdenkliche Elefantenfrau (2009). Ein Selbstporträt von Elke Härtel mit schweren Beinen.
- © kathi moser, Loft 8Sich selbst hat sie schwere Beine gemacht. Die von einem Elefanten. Nein, sie hat ihrem Selbstporträt keine Elefantiasis angedichtet, kein Lymphödem. Zu einem Hybriden ist sie mit dem Dickhäuter verschmolzen, einem Mischwesen ähnlich den Nixen, Sphingen, Satyrn und Zentauren. Ein psychischer Zustand (oder ein Körpergefühl), übersetzt in Surrealismus?
Eine Elefantenfrau (oben schlank, unten plump und scheinbar unbeholfen), die die Fantasie zum Tanzen auffordert: "Tanz mit mir" (Werktitel). Klingt wie eine gefährliche Drohung. Keine Elefantin im Porzellanladen, eine auf dem Tanzparkett, die ihrem potenziellen Tanzpartner mutmaßlich auf die Füße treten wird. Im Gegenzug ist sie standfester. Kann sich besser wehren. Und das Vorurteil, allein leichtfüßige Personen könnten tanzen (oder hätten das Recht dazu), schlichtweg niedertrampeln. Ganesha zum Beispiel, dieser hinduistische Gott, soll ein begnadeter Tänzer sein. Zugegeben, der hat den Kopf von einem Elefanten.
Aus Wolken eine Stimmung meißeln

Elke Härtels Elefantenfrau (vorne) macht einen Ausflug ins Grüne. In Philipp Schweigers dunstige Natur (hinten).
- © kathi moser, Loft 8Philipp Schweiger leistet der Aufforderung zum Tanz furchtlos Folge. Oder umwölkt die Tänzerin halt in sicherer Entfernung. Von den umgebenden Wänden aus. Der Pinsel ist sein Meißel, mit dem der malende Bildhauer seine flüchtigen Gebilde plastisch aus der Fläche herausmodelliert, Räume erschafft, die Illusion von labilem, unbeständigem Volumen. Licht und Schatten bauschen sich zu atmosphärischen Skulpturen auf, zu Stimmungen, die der Künstler oft aus mehreren Leinwänden zusammenpuzzelt. Zu eindrucksvollen, geradezu überwältigenden himmlischen Melodramen. Voller Brüche, weil sich die Einzelteile nicht nahtlos zum großen Ganzen summieren und sogar dieses letztlich nichts weiter als ein kleiner Ausschnitt aus Etwas ist, das nicht auf einen Blick und aus einer Perspektive zu erfassen ist.
Ein abstrakter Expressionist ohne Bezug zur Wirklichkeit ist er definitiv keiner, der Schweiger. ("Ich bin nicht der Typ, der sich vor die weiße Leinwand hinstellt und seinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf lässt.") Wolken, diese instabilen Wanderer zwischen den Welten, zwischen der Verdunstung und dem Regen, die sind aber sowieso ein Sujet, das die Abstraktion quasi serienmäßig eingebaut hat.
Die Sachlichkeit verwischt zu einer verblassenden Erinnerung, die im Detail nimmer greifbar, nur noch eine Empfindung ist, eine vage Impression. Und wenn sich das Grün hinter einem dunstigen Schleier zur Landschaft aufbäumt, zu einem grünen Rauschen (Schweiger: "Wenn die Bäume grau-weiß wären, wären sie auch Wolken"), hat das mehr was von einem visuellen Echo der Vergangenheit als einem "Livebild".
Erinnerungen sind ganz natürlich
Ein unscharfer, verklärter Fotorealismus, der mit seinen grünen Wolken am Stiel (bzw. am Stamm) obendrein äußerst delikat ist. Drum muss ich dem Bildhauer, der sich das Malen im Wesentlichen selber beigebracht hat, entschieden widersprechen, wenn er behauptet: "Ich kanns bis heut nicht." (Relativierender Nachsatz: "Wenn man etwas nicht gelernt hat, kann man nicht viel falsch machen.")
Beim Philipp Schweiger taucht der Blick durch lasierende Farbschichten und die gemalte Natur hindurch und in die Natur der Malerei und der Erinnerung ein, und beim von der Elke Härtel beseelten Gips prallt er genauso wenig an der Oberfläche ab. (Abgesehen davon, dass er da ein abwechslungsreiches Terrain zu erkunden hat.) Zwei, die ihre unterschiedlichen Sprachen (die skulpturale und die malerische) insofern einen, als diese sooo verschieden auch wieder nicht sind.

Die Wolken vom Philipp Schweiger passen der Wand wie angegossen.
- © kathi moser, Loft 8