Das Ganze ist ja angeblich mehr als die Summe seiner Teile. Aber wenn der einzelne Teil bereits alles ist? Weil halt nicht mehr auf dem Bild drauf ist? Endet Letzteres womöglich nicht dort, wo die Malerei aufhört. Die Liebe zum Detail ist hier jedenfalls unverkennbar. Rainer Spangl, 1977 auf die Welt gekommen (geboren, lebt und malt in Wien), "zoomt" an seine Motive nämlich sehr nah heran, die er sich in seinem persönlichen Umfeld sucht, seiner vertrauten Umgebung, erweist sich in der Galerie Martin Janda als wahrer Meister des intimen Ausschnitts im ebenso intimen Format, des Fragments, das auf ein größeres Ganzes verweist, auf ein Gesicht zum Beispiel (bzw. auf ein klassisches Genre: auf Porträt, Stillleben, Interieur).
Der kleine Unterschied schärft die Wahrnehmung

Rainer Spangl kommt nicht nur der Leinwand sehr nahe, sondern auch seinem Motiv. ("Untitled, 2021.)
- © kunst-dokumentation.com, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaDie Zimmerpflanzen, die förmlich über den Bildrand hinauswuchern (besonders wenn Spangl mehrere Leinwände zusammengepuzzelt und theoretisch noch weitere anstückeln könnte, ein potenziell unendliches Undsoweiter), die sind natürlich auch ohne Blumentopf botanisch einordenbar (vorausgesetzt, man kennt sich mit der Flora aus): Winterrosen und Pilea peperomioides, dieses ausdauernd krautige Grünzeug aus China mit den glänzenden Laubblättern. Die Inhaberin von Auge, Schläfe und Wange, die sich ins Profil gedreht hat und seitlich aus dem Gemälde hinausschaut, lässt sich hingegen nicht so ohne Weiteres identifizieren. Okay, der Künstler hat verraten, um wen es sich handelt: seine Frau. (Ezara Spangl, die ebenfalls malt.)
Und nicht bloß einmal hat ihr Mann derselben Gesichtspartie seine volle Aufmerksamkeit geschenkt. Weil er ein "Wiederholungstäter" ist. Wiederholungen? Klingt langweilig. Ist es allerdings nicht. Wobei die mutmaßliche Wiederholung in Wahrheit eine vermeintliche ist. Ein sublimes Spiel mit den kleinen Unterschieden, das die Wahrnehmung schärft und schult. Der gemalte Blick ändert sich, seine Richtung. Das eine Mal ist er klar, offen, das andere Mal nachdenklich, gesenkt, introvertiert, zieht sich geradezu in die Pupille zurück. Oder ein Lächeln ist zu erahnen. Die Farbtemperatur variiert, das nuancenreichst geschilderte kühle Inkarnat erwärmt sich, errötet, wird besser durchblutet. Überhaupt hat der Maler offenbar in seine zart und feinsinnig aufgetragenen Ölfarben Gefühl hineingemischt. Als Bindemittel. Quasi.
Dasselbe ist bestenfalls das Gleiche

Hat einen Blick fürs Detail: Rainer Spangl. Das Auge im Bild gehört übrigens seiner Frau.
- © kunst-dokumentation.com, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaBildnisse der Ehefrau des Künstlers sind das also streng genommen keine. Dazu sind sie zu "gesichtsblind". Doch könnten das eventuell lauter Porträts eines Augenblicks sein? Respektive von mehreren verschiedenen Augenblicken (und Blicken), von Momenten zwischen zwei Lidschlägen? Und zwischen den Bildern blinzelt die Zeit?
Außerdem gehts da sichtlich ums Schauen (was man bekanntlich mit den Augen tut, während man mit dem Hirn sieht), ums genauer Hinschauen. Und um die Zeitlichkeit. Der Ausstellungstitel suggeriert das zumindest: "A.G.O.A.S.E." Was für eine Oase? Gar keine. Das soll vielmehr die Abkürzung sein für "a glimpse of a second expanded". Der flüchtige Blick einer Sekunde, ausgedehnt. Na ja, Malen dehnt die Zeit. (Beim Versuch, sie festzuhalten.) Kann aus dem flüchtigen Sekundenbruchteil, den die fotografische Vorlage eingefangen hat, Stunden, Tage, Wochen machen.
Ständig vergleicht man und entpuppt sich dasselbe bestenfalls als das Gleiche und dann plötzlich als sooo gleich auch wieder nicht. Auf Schritt und Tritt wird man verunsichert, wird man (ätsch!) reingelegt. Etwa wenn zwei Bilder, auf denen sich der Pinsel in einer Ecke, in einem unscheinbaren Winkerl eines Raumes herumdrückt, gemeinsam leibhaftig an der echten Wand hängen und daneben – fast – identische, perspektivisch verzerrt, an einer gemalten Wand. Betonung auf "fast".
Die Haut der Malerei

Haut mit Schattenspiel? Himmel? Was der Rainer Spangl da wirklich gemalt hat, steht im Text.
- © kunst-dokumentation.com, Courtesy: Galerie Martin Janda, ViennaUnd die atmosphärische Malerei ohne die geringsten figurativen Anhaltspunkte? Hm. Nackte Haut in einem dermaßen extremen Close-up, dass ihre Sinnlichkeit schon unscharf wird, sich ihre Weichheit in Atmosphäre auflöst? Das Gesicht zwischen der Physiognomie? I wo. Schlichtweg abstrakte Bilder. Die sich in letzter Konsequenz aus den gegenständlichen ergeben und sich mit ihrem kontemplativen malerischen Duktus harmonisch in den realistischen Rest einfügen. Nicht einmal als Fremdkörper herausstechen.
Er hätte eine "On-off-Beziehung zur Abstraktion", meint Rainer Spangl, der mit seiner delikaten Malerei beweist: Nicht nur mit lauten Tönen entfacht man die Schaulust. Sondern gerade mit dem Gegenteil. Mit Diskretion. Indem man die Peripherie ins Zentrum des Interesses rückt und sich aufs "Nebensächliche" fokussiert.