Nein, Picasso war nicht insgeheim ein Therapeut. Sein Kubismus war zwar ein analytischer (gefolgt von einer synthetischen Phase), aber eben kein psychoanalytischer. Der Clemens Krauss ist hingegen einer, ein ausgebildeter Therapeut. Dafür kein Kubist. (Und kein Picasso.) Ein Maler allerdings schon. Sogar ein studierter. Zuerst hat er ein Studium der Medizin absolviert, danach eines der Malerei (Letztere unterrichtet er obendrein, in Berlin übrigens), und abgerundet hat er das Ganze noch mit der Facharztausbildung zum Psychoanalytiker.
Und? Wie nennt man seine Kunstrichtung jetzt? Analytischen Realismus? (Tschuldigung: psychoanalytischen, natürlich.) Zumindest kann man das, was er malt, in der Regel erkennen. In seiner aktuellen Ausstellung ("Indices") sinds im Wesentlichen Menschen und Blumen.
Blumen wollen sowieso nur das Eine
Da gibts ja diesen Freudschen Versprecherwitz, wo sich zwei Freunde treffen und der eine dem anderen eine Therapie nahelegt, weil die hätte dieser echt nötig. Der hält freilich nicht viel davon, schließlich wären diese Psychotherapeuten allesamt Saubarteln, besonders die Freudianer, zumal die jedes Problem sexuell interpretieren würden. Irgendwann lässt er sich dann doch breitschlagen: "Okay, wo ordinärt denn dieser Arzt?"

Blumig, freilich nicht unbedingt fleischlose Kost: Clemens Krauss' Serie "Blossom" (links 2023, rechts 2022).
- © SIMON VERES, Courtesy: Galerie Crone, Berlin WienDer Krauss "ordinärt" jedenfalls grad in der Galerie Crone. Bzw. hängen seine Bilder dort. Und speziell seine Blüten (aus der Serie "Blossom") sind sehr explizit libidinös. Mehr Eros als Thanatos. Klassische Blumenstillleben (vor allem die aus der Barockzeit) sollen ja immer zugleich an die Vergänglichkeit gemahnen, ans Verwelken. Wobei: Streng genommen wollen die Blumen eh bloß das Eine. Nämlich Bestäuber anlocken. Sind auf Blümchensex aus, quasi. Hier sehen sie gleich überhaupt aus wie Geschlechtsteile am Stiel. Andererseits enthalten die Blüten die Fortpflanzungsorgane (die Staub- und Fruchtblätter), sind, wie der Künstler erläutert, "die Genitalien der Pflanzen". Genitalien seien außerdem "genauso schön wie Gesichter und Blumen". Und sind Blüten nicht irgendwie die Gesichter der Blumen?
Die blühende Fantasie steht nicht im Botanikbuch
Nicht, dass seine menschlichen Figuren harmlos wären. Kreatürlich sind sie. Körperlich. Aus der Farbmasse erschaffen, sind sie oft deformiert, verkrampfte Leiber, verzerrt, mit überlangen Gliedmaßen. Manchmal kaum noch Menschen, bestenfalls Humanoide (wie die Blumen floraloide Kreationen sind, blühende Fantasie, die man in keinem Botanikführer und in keiner Wiese finden wird).

"Mensch" (2022). Aber eigentlich hat der Clemens Krauss da zwei Menschen gemalt. Jedes Bild dieses Diptychons eine Einzelzelle.
- © Galerie Crone, Berlin WienSie sind allein, isoliert oder formieren sich zu Gruppen, zu Familien, gehen einmal komplett in der Menge auf, verschmelzen zum anonymen Gatsch, verschlammen zur Bevölkerung, zur Allgemeinheit, verallgemeinern. Das Bild ist Lebens- und Handlungsraum oder viel zu kleine Einzelzelle, ein Gefängnis, das den Einzelnen in die klaustrophobische Enge treibt, ihn in diese hineinzwängt. Und unentwegt wird die Physis zum Schlachtfeld (Krauss: "Auch Krieg und Frieden spielen sich im Körper ab"), auf dem das Individuum mit der Gesellschaft verbissen um seine Identität kämpft.
Mit Fragen wie der körperlichen Integrität und der Verletzung derselben als Ausdruck von Machtverhältnissen und dergleichen befasst sich der Künstler generell. Und lässt das gern vorgebrachte Argument, Beschneidung hätte was mit Hygiene zu tun, nicht gelten: "Aus hygienischen Gründen müsstest du auch jedes Augenlid entfernen." Nachsatz: "Es gibt halt Körperteile, die man mehr pflegen muss." Die schlimmste Form der Autoaggression wiederum sei die Sucht, erklärt er, als er vor der Galerietür bereits den dritten Tschick austötet.
Lieber klotzen, als mit der Farbe bloß zu kleckern
Seine Malerei ist ebenfalls "deformiert". Gewissermaßen. Die Flachware stark übergewichtig. Nimmer zweidimensional, sondern in 2,5 D (wenn nicht in 3 D). Ein Hybrid aus Malerei und Skulptur. (Ein Relief? Mindestens.) Die Räumlichkeit ist in (oder auf) diesen Bildern, die sich mit ihrer auffallend materiellen Präsenz hervortun, keine reine Illusion, wird großteils aus der Farbsubstanz modelliert.

Massenhaft Menschen und Farbe: "Assembly" (2022). Öl auf Leinwand, viel Öl auf Leinwand, draufgeschaufelt von Clemens Krauss.
- © Galerie Crone, Berlin WienDieser Maler quetscht halt keine Tuben aus, er bestellt sich die Farbe kübelweise. Bekommt den Großkundenrabatt. Einer, der lieber klotzt, statt zu kleckern. Und der weiß, dass ein Liter Ölfarbe "ziemlich genau zwei Kilo" wiegt. Tja, Öl ist nun einmal dicker und schwerer als Wasser. Sollte es nicht leichter als Wasser sein? Immerhin schwimmt es auf diesem. Wurscht. Mit Aquarellfarben hätte der Clemens Krauss das nicht so teigig und gewichtig hingekriegt. Die Sehnsucht der digitalisierten Welt nach einer greifbaren Sinnlichkeit, der analogen Haptik?
Er zeigt auf ein üppiges Opus von heuer, das somit noch total frisch ist: "Das braucht zehn Jahre, bis es durchgetrocknet ist. Das darfst du nicht angreifen, da machst du dich schmutzig." Sein allerneuestes Werk daneben (fünf Kilo Farbe!) wird er gar nachspannen müssen. Das wellt sich, duelliert sich sichtlich mit der Schwerkraft. (Was hängt an der Wand, und wenn es runterfällt, war die Erdanziehungskraft stärker als der Nagel? – Gut, so weit sind wir noch nicht.) Sicherheitshalber ("Leider gilt die Physik auch für meine Bilder") werden die in zweifacher Hinsicht sehr substanziellen Arbeiten liegend transportiert. Als Vorsichtsmaßnahme gegen die Naturgesetze.

Der "Vorgang" (was für einer auch immer) von Clemens Krauss ist erst in zehn Jahren trocken. Wird das Bild dann also erst im Jahr 2033 völlig fertig sein?
- © Galerie Crone, Berlin WienObwohl: Hinten sind sie ohnedies flach, die Bilder. (He, genau umgekehrt wie bei meinem alten Röhrenfernseher. Der war vorne ein planer Flatscreen und lediglich hinten blad.) Der relativ neutrale Hintergrund mit unterschwelliger Buntheit, ein Beige-Grau mit einem warmfarbigen Unterton, ist ja, anders als die pastosen Motive davor, die nicht dezidierter verortet werden, dünn aufgetragen. Der Schöpfer der Gemälde dementiert freilich, dass seine Bilder einen Hintergrund hätten. Das wäre vielmehr "ein gleichberechtigter Bildbestandteil", weniger ein Hintergrund als ein "Beigrund".
Malen wie ein Mauerer – und Analytiker
Mit dem Pinsel malt er aber wahrscheinlich nicht, oder? "Doch, doch." Diese Antwort kam zugegebenermaßen etwas überraschend. Er verwende das Malgerät wie eine Schaufel. Bedeutet das, er malt wie ein Totengräber? Schaufelt Farbe auf die Leinwand wie einer, der die einfach nicht totzukriegende Malerei bei lebendigem Leib beerdigen will? Nicht direkt. Als Palette verwendet er immer eine große Holzplatte (die Dinger sind mittlerweile zu begehrten Sammlerstücken avanciert, werden selber zu Tafelbildern), taucht den Pinsel bis zur Hälfte des Stiels in die bunte Materie ein, und nachher pfeffert er die Ladung "so drauf (Anmerkung: auf die Leinwand) wie mit der Maurerkelle". Noch ein wertvoller Tipp vom Meister: "Du musst dabei den Moment derwischen, wosd aufhörst." Also malt er wie ein Bauarbeiter? Oder doch wie ein Analytiker?

Zu einer innigen Beziehung verklumpt: Groß und Klein in Clemens Krauss' Opus namens "Service" (2023).
- © Galerie Crone, Berlin WienAuf alle Fälle würde er "nur" als bildender Künstler arbeiten (",nur unter Anführungszeichen"), bringe jedoch die Analyse in seine Kunst mit ein. Und wie? Indem er das tut, was Analytiker machen: therapeutische Sitzungen abhalten. Äh, und inwiefern unterscheidet ihn das von einem herkömmlichen Therapeuten? – Er verlangt kein Geld dafür.
Am Anfang der Pandemie, rund um den ersten Lockdown, hat er etwa Gratis-Online-Termine angeboten. Der Andrang aus Europa, Amerika, Asien, Australien war so enorm, innerhalb von 48 Stunden ist der Server zusammengebrochen. ("Ich hatte zwei Tage keinen Mailzugang mehr.") In den Einzelgesprächen zu je 50 Minuten, beginnend stets mit der vollen Stunde (das erste fand am 13. März 2020, einem Freitag, statt, das letzte im Mai), hat er sich mit den Leuten über ihre Probleme unterhalten, über die Einsamkeit, Beziehungen, Ängste, Traumata, die Unsicherheit durch dieses neue Virus. Von neun in der Früh bis neun am Abend. Ohne Mittagspause oder Ruhetag. (Hm. 12 mal 7, das macht . . . eine 84-Stunden-Woche! Na bumm. Ein Marathonläufer und Marathontherapeut.) Nicht einmal an den Osterfeiertagen hat er pausiert, selbst da war the artist (and the therapist) present. Seine Familie fands weniger toll.
Immer fertiger und bärtiger
Bloß zehn Minuten hat er zwischen zwei Sitzungen freigehabt für seine eigenen Bedürfnisse. ("In diesen zehn Minuten bin ich entweder aufs Klo gegangen, hab einen Kaffee getrunken oder mir ein Brötchen reingeschoben.") Nach dieser selbstausbeuterischen "Megaverausgabung" (Krauss) ist er "tot ins Bett gefallen", um jeden Morgen aufs Neue wiederaufzuerstehen (oder als Zombie aus den Federn zu kriechen).

Clemens Krauss: "Transgression" (2023). Noch Menschen oder schon transhuman?
- © Galerie Crone, Berlin WienDoch damit nicht genug. Zusätzlich zu seinem jeweiligen Zwölf-Stunden-Tagewerk hat er überdies noch ein Wochenwerk abgeliefert. Einen resümierenden Video-Podcast. Hat ein verbales Stimmungsbild dieser extremen Zeit der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, des Social Distancing, gemalt während er sein – unmaskiertes – Gesicht gezeigt hat. Von Woche zu Woche hat er fertiger und bärtiger ausgeschaut. War dieses Projekt mit dem eingängig reimenden Titel "Isolation Consultation" nun eigentlich eine (vertrauliche) Performance?
In Berlin hat der Krauss Gruppentherapien im Museum veranstaltet und immer montags, am Schließtag, parallel dazu am Bild "Monday" gewerkelt. Und um 2019 auf der Biennale in Havanna mit den Besuchern ins therapeutische Gespräch kommen zu können, hat er vorher extra Spanisch gelernt. "Die hätten mich nie eingeladen, wenn die gewusst hätten, was ich vorhabe", ist er überzeugt. Die Psychoanalyse brauche nämlich die Freiheit des Denkens und Redens und sei in Diktaturen natürlich unerwünscht. In solchen gebe es meist nur eine Psychiatrie. Indikatoren für ein autoritäres Regime? Laut Krauss wird als erstes die Presse eingeschränkt, dann sind die Künstler dran und danach kommt die Psychoanalyse an die Reihe.
Gemischte Gefühle und Farben

Laut dem, der's gemalt hat, "eine Landschaft oder ein Feuer oder auch nix". Allerdings hat der Clemens Krauss das Bild "Free Debate" genannt. Und das ist doch was.
- © Galerie Crone, Berlin WienApropos reden: Sein Akzent klingt wie der eines germanisierten Österreichers. Wo kommt er her? "In Österreich sagen sie: ,Heast, kummst aus Deitschlond?, in Deutschland: ,Ach, du bistn Österreicher. Is ja süß." Und? Welcher von den beiden ist er? Oder ist er beide gleichzeitig? "Ich bin ein waschechter Passport-Austrian mit allen Wurzeln, wie sichs gehört." 1981 in Graz geboren, seit 2007 in Berlin, Mutter aus Kroatien.
Diesmal liegen den Bildern keine Sitzungen zugrunde. Nicht wie 2017, als er sich im ersten Stock der Galerie, im Büro, einen Therapieraum eingerichtet hat. ("Ein Tisch, zwei Stühle.") Trotzdem haben die patzigen Formen was Psychophysisches. Die Ambivalenzen des Daseins, brutal auf Leinwände geschleudert. Gemischte Gefühle und Farben. (Wie Illustrationen des Besprochenen darf man sich die damals herausgekommenen Arbeiten allerdings sowieso nicht vorstellen. Die haben sich eher aus dem "Rauschen" des Gesagten gespeist. Und: "Ich werde ja auch immer behandelt durch diese Erfahrung", meint der, dessen Farben mit ihrer patzigen Griffigkeit das Leben förmlich verkörpern.)
Mit dem geradezu minimalistischen Exponat von der Einladungskarte (drei langstielige Blumen mit phallischen Knospen) hat offenbar jemand seine Angst vor der leeren Leinwand erfolgreich bewältigt. Durch Konfrontationstherapie. Nach einer Stunde gebannten Starrens hat er kurzerhand "Farbe genommen und in drei Richtungen geschoben". Hat die Fantasie also doch noch geblüht.
Die Stille hinter dem Düsenjäger

Was Leichteres: aus der Serie "Blossom" von Clemens Krauss.
- © Galerie Crone, Berlin WienWitzig: Die Fratze, in der die Grenzen zwischen dem Figurativen und dem Abstrakten verschwimmen, lässt sich um 90 Grad drehen und ist dann nach wie vor eine Fratze, in der die Grenzen zwischen dem Figurativen und dem Abstrakten verschwimmen. Zwei Gesichter in einem. Ein Doppelporträt? Ein Bildnis mit einer dissoziativen Identitätsstörung? Und warum heißt das Bild mit dem Kampfjet ausgerechnet "Silence" (Stille)? Weil Gemälde keinen Ton haben? Falsch. Weil dieser lärmende, einen martialischen Krach machende Flieger "in dem Moment, wo man ihn hört, schon wieder weg ist". (Überschall, hallo?)
Mit seiner Technik "Viel Öl auf Leinwand" hat der Clemens Krauss nicht unbedingt die gefälligsten Bilder hervorgebracht, aber welche, die definitiv gehaltvoll sind. Und das sind sie nicht allein deswegen, weil er sie kiloweise mit Farbe gemästet hat. (Sondern ebenso mit seinem Wissen um die menschliche Psyche.)