Als große Odaliske von Ingres präsentierte sich die mit Performances, Fotos, Filmen und Collagen ab den 1960er Jahren tätige französische Künstlerin Orlan, die wie Valie Export ihren Namen in Großbuchstaben geschrieben sehen möchte, im Eingangsbereich der Sammlung Verbund. Kuratorin Gabriele Schor präsentiert die spannende Protagonistin aus der Gruppe der feministischen Avantgarde erstmals mit einer Personale und dem ersten deutschsprachigen Katalog in Österreich, und das auf acht Ebenen des Stiegenhauses der Verbundzentrale. Zu sehen sind Orlans Hauptwerke aus über sechs Dekaden Schaffen. Es ist ein längst fälliges Unterfangen, wurde doch die Odaliske von den Guerilla Girls immer wieder für Protestplakate genützt, um ab 1985 die Präsenz der Frauen im Kunstbetrieb einzufordern.
Schor beginnt mit dem Frühwerk, das 1964 mit der Geburt des geliebten Selbst und ersten Körperskulpturen der sich als Konzeptkünstlerin bezeichnenden Orlan auf neu erstellten großen Schwarzweiß-Fotografien ansetzt: Die Künstlerin war damals 17 Jahre alt, kam aus dem Tanz und unterrichtete am Gymnasium Kunst, da feministische Werke sich am Kunstmarkt noch nicht etabliert hatten. Unkonventionell steigt sie nackt aus einem Bilderrahmen, um schon 1966 den "Versuch, dem Rahmen zu entkommen" zu starten.
Ein Kuss für fünf Francs
Mit der berühmten Aktion "Der Kuss der Künstlerin" 1977 beschwor sie einen Skandal auf der Fiac in Paris. Sie verkaufte ihre Küsse um fünf Francs, die in eine nackte Körperrumpfmaske eingeworfen wurden. Auch das Original-Podest mit der Erscheinung als Heilige mit Kerzen und weißen Lilien daneben ist noch vorhanden. Ein Film zeigt, dass vor allem Frauen der Aufforderung nachkamen und lächelnd weggingen. Die Gesellschaft aber reagierte äußerst ablehnend: Orlan verlor ihren Job als Lehrerin. Doch sie gab nicht auf, "Sich auf dem Markt in kleinen Stücken" mit "Reinheitsgarantie" zu verkaufen. Die damals aufgehängten Körperteile sind nun in einer Scheibtruhe platziert. 1980 trat sie in weißem Kleid als "Wächterin des Orlan-Körpers" auf, zwei von diesen bewachen die Fotos von wichtigen Performances im dritten Stock.
Das Oszillieren der Frau zwischen anrüchiger Nacktheit und Heiliger war eine wichtige Ikonografie, in der einige große Faltenwürfe auch ihre fotografischen Anregungen bei Gaetan de Clérambaults Verhüllungen zur Erläuterung erotischer Stoffleidenschaft der Frauen um 1900 verraten. Als Madonnenskulptur stellte sie sich auf einer Farbfotografie in einer Autowerkstatt dar. Den nächsten Skandal verursachte die im Halbstock präsentierte Fotoantwort auf Gustave Courbets "Der Ursprung der Welt": ein erigierter Phallus mit anonymem Unterkörper als "Der Ursprung des Krieges" 1989.
In den 1990er Jahren setzte sich Orlan mit dem fehlgeleiteten Schönheitskult radikal auseinander, indem sie sich selbst unter das Messer der Chirurgen begab, um Eingriffe in ihrem Gesicht vornehmen zu lassen und zu dokumentieren. Dabei sind die wulstartigen Kunstausstülpungen links und rechts oberhalb der Augenbraue die deutlichsten Zeichen von in Kunst transformierte Haut über Implantaten.
Den "Mischzustand der Kreuzung zwischen der Venus von Botticelli und dem Gesicht von Orlan" hielt sie in sich wandelnden Variationen 1997 fest. Immer mit neuen medialen Techniken wie Augmented Reality arbeitend, hat die Künstlerin zuletzt Selbstkreuzungen mit Masken der Peking Oper (in der nur Männer agieren) und mit den weinenden Frauen aus Pablo Picassos politischen Bildern aus der Kampfzeit gegen "Traum und Lüge Francos", in Anspielung auf die wichtige Gefährtin Dora Maar, 2019 zu Serien collagiert. Mittels einem QR-Code können die bunten Masken der Peking Oper mit dem Handy auf ein performatives Heraustreten der Künstlerin aus der Fotografie erweitert werden.
Orlan ist nach wie vor feministisch aktiv bei Demonstrationen, steht in Austausch mit Künstlerinnen wie auch Pussy Riot und ist Teil der Cyber-Collection von Modemacher Jean Paul Gaultier. Ihre Biografie wird hoffentlich demnächst auch ins Deutsche übersetzt.