Es begann 1977. Herwig Zens (1943-2019) nutzte in seiner ständig skizzierenden Art auch die Reste von Kupferplatten, um mit der Radiernadel zeichnend wie schreibend aktuelle Erlebnisse in der Kunstwelt und im Zeichenunterricht am Gymnasium festzuhalten. Figuration, Datum, Kommentar, Strich drunter und das weiter am nächsten Tag, bis etwa 40 Zentimeter gefüllt waren, von oben nach unten zu lesen; altorientalisch in Streifen, aber auch ähnlich Mangas oder Comics. Wenn an einem Tag nichts für ihn Wichtiges passierte, genügte das Datum. Es wuchs sich aus zu etwa 850 schmalen Druckplatten aus Kupfer, die Herwig Zens wie folgt kommentierte: "Meine Obsession - absolut sinnlos."
Hunderte Streifen nebeneinander, gedruckt 2005 in einem selbst den erfahrenen Drucker Kurt Zein maßlos herausfordernden Vorgang, entstand die längste Radierung der Welt in einer Länge von 40 Metern. 28 Jahre Tagebuch ging nun als Schenkung von Gerda Zens an das Kunsthistorische Museum Wien (KHM), wo es in einem teils aufgerollten Zustand im Bassanosaal zu sehen ist.
Kuratorin Hanna Schneck hat die Bezüge zum Haus recherchiert. Es gibt sie zahlreich - von seinen Variationen zu spanischen Meistern in einer Schau aus dem Jahr 2005 über Antonio Canovas Theseus-Gruppe und Kaiser Maximilian bis zu Bezügen zu anderen Meisterwerken. "Herwig Zens in einem Stück" ist ergänzt um Einzelblätter, Radierplatten und Dokumentation und war erst ein Mal in Spanien zu sehen, sowie zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 in gesamter Länge, die Aula der Akademie am Schillerplatz umspannend.
Ein Selbstbildnis am Anfang, intoniert in der Rolle des Erzählers, wie seit antiken Friesen bekannt, was dem umfassend Gebildeten wichtig war. Auf hochwertigem französischem Aquarellpapier entfalten sich die Wesentlichkeiten eines Künstlerlebens: Selbstreflexive Bilderträume und Ideenskizzen, Atelierarbeit, die Mühen und Freuden der Lehre an der Akademie, die Exkursionen und privaten Reisen. Immer wiederkehrend Spanien und Berg Athos, Ausstellungsbesuche quer durch Europa, Kunstmessen mit Lob und Tadel-Kommentaren, Galerien und die vielen Begegnungen, vor allem Besuche von und bei Freundinnen und Freunden.
Der Zenssche Sarkasmus erfreut besonders, vor allem wenn die gehassten Akademiesitzungen als zeitraubender Schwachsinn beschrieben werden, oder Freunde wie Rainer Bischof nicht als Musiker, sondern als schlechte Köche karikiert werden. Sein atemloses Agieren ist spürbar, hektische Reisetage, Kampf um Motive und zu wenig Muße im Atelier. Die Bemerkungen zu seiner schweren Herzkrankheit und vielen Spitalsaufenthalten erschüttern auch.
Mit einer wunderbaren Paraphrase eines Gemäldes von Barent Fabritius ist das Werk, das alle Rekorde bricht und auch ein Who-is-Who der weit über Wien hinausreichenden Kunstszene darstellt, im Kunsthistorischen Museum am besten aufgehoben. Denn der am 24. September 2019 verstorbene Künstler befand, trotz internationaler Ausstellungstätigkeit, die Schau der spanischen Gemälde-Paraphrasen als seine schönste Präsentation. Das Museum hat nun die Möglichkeit, die alten Meister mit Gegenwartskunst, dabei einem ausgefallenen Beispiel, zu konfrontieren, zudem sind künstlerische und Reflexionen der Kunstvermittlung, Vergänglichkeit und kunsthistorische Theorie enthalten.