Dafür muss man den Kopf nicht bis zur Genickstarre in den Nacken werfen, nicht einmal großartig das Kinn anheben. Oft reicht es schon, die Augen eine Spur hinauf wandern zu lassen, über die Eingangstüren und Schaufenster hinweg bis in die ersten Stockwerke so mancher Wohnhausanlagen.
Wir beginnen unseren Rundgang am Anfang der Operngasse, wo vor langer Zeit die Bärenmühle am Mühlbach des Wienflusses geklappert hat. Ihren Namen hat sie angeblich dem Überfall eines Bären auf den Müller zu verdanken, der durch einen patenten Knecht vereitelt werden konnte.

Diese Sage erzählt das schon etwas mitgenommene Steinrelief an der Fassade über der blauen Leuchtschrift der Admiral Sportsbar in ziemlich plastischer Manier. Das Relief stammt von Oskar Thiede, das dazugehörige Haus wurde 1937 durch den Assanierungsfonds des schwarzen Wiens errichtet, der als Abkehr zum Gemeindebauprogramm des Roten Wiens die private Bautätigkeit ankurbeln sollte und mit dem man das Freihausviertel ab 1934 aus politischem Kalkül gravierend umgestaltete.

Die sogenannte Kunst am Bau in Form von Reliefs, Mosaiken und Sgraffiti an Hauswänden und in Innenhöfen hob bereits in der Zwischenkriegszeit im kommunalen Wohnbau an, ist auch in der Zeit des Ständestaates und des Nationalsozialismus entstanden, und florierte dann besonders in den 50er- und 60er-Jahren. Sie sollte den Wiederaufbau untermalen, speziell die Wohnbauoffensive des sozialen Wiens, Kunst für alle sein, einerseits ein positives Image der Stadt zeichnen, andererseits auch ihre Künstler unterstützen. Ab 1949 gab es dafür sogar ein Vergabeverfahren – ein kleiner Prozentsatz der Bausumme wurde fix für Kunst eingeplant: "In den 1950er-Jahren wendete die Stadt Wien etwa 2 Prozent der Bausumme ihrer Wohn- und Nutzbauten für Kunst am Bau auf, insgesamt jährlich rund 3 Millionen Schilling", heißt es 2013 in einer Presseaussendung der Stadt Wien. Zwischen 1949 und 1959 seien etwa 1.090 Werke von 355 Künstlern entstanden.

Das Mosaik über die Geschichte des Freihausviertels beschreiben Lukas Arnold (l.) und Marcello La Speranza auch in ihrem Buch "Mosaikwelt Wien". 
- © Christoph Liebentritt

Das Mosaik über die Geschichte des Freihausviertels beschreiben Lukas Arnold (l.) und Marcello La Speranza auch in ihrem Buch "Mosaikwelt Wien".

- © Christoph Liebentritt

All diese Kunstwerke in einem Buch abzubilden und zu kontextualisieren, würde an Umfang dem Brockhaus den Rang ablaufen. Deshalb haben sich Marcello La Speranza und Lukas Arnold in ihrem jüngsten Buch "Mosaikwelt Wien" hauptsächlich auf Bildnisse mit stadtgeschichtlichem Kontext fokussiert, vornehmlich aus den 1950er-Jahren, und liefern dabei ein Kaleidoskop verschiedener Aspekte, das letztlich aber doch nur eine subjektive Auswahl sein kann. "In den 60ern stand eher das Abstrake im Vordergrund. Da wollte man vielleicht nicht mehr so sehr auf die Geschichte eingehen, wollte weltoffener werden", sagt La Speranza. Das Buch soll eine Art alternativer Stadtführer sein und die Leserschaft dazu animieren, die Kunstwerke selbst abzuklappern.

Wir gehen die Operngasse hinauf, als La Speranza uns an der Ecke zur Faulmanngasse einbremst: "Wie würden Sie das Kunstwerk zeitlich einordnen?" Über dem veganen Burgerladen Swing Kitchen prangt ein gut zwei Stockwerke hohes Sgraffito an der Fassade, das drei Männer zeigt: einer hält einen Stift, ein anderer trägt Saatgut und ein dritter schultert einen Hammer. Die Inschrift: "Es gibt nur einen Adel, den Adel der Arbeit". Der weiße stilisierte Schriftzug "Real vegan Burger" etwa einen Meter darunter hat schon nichts mehr mit dem Wandbild zu tun. Formal und inhaltlich ließe sich das Werk leicht dem sozialistischen Realismus zuordnen, stammt aber tatsächlich aus der NS-Zeit.

Das Sgraffito in der Faulmanngasse stammt aus der NS-Zeit. 
- © Christoph Liebentritt

Das Sgraffito in der Faulmanngasse stammt aus der NS-Zeit.

- © Christoph Liebentritt

Auch der Spruch findet sich zwar bereits in einer sozialdemokratischen Tageszeitung von 1923, wie Historikerin Renée Winter in einem Standard-Artikel von 2021 erklärt, habe sich im Nationalsozialismus aber gehäuft und wurde ideologisch vereinnahmt. Angeblich habe ursprünglich sogar Hitlers Name unter dem Wandbild gestanden, sei aber nach dem Krieg entfernt worden. Im Jahr 2021 wurde von der Bezirksvertretung eine sichtbare Kontextualisierung des Sgraffitos von Carl Krall beantragt.

La Speranza und Arnold machen das, was man unter Urban Exploring versteht. Aber mit geschichtswissenschaftlichem Background, das ist ihnen wichtig. Das hebt sie von den anderen ab, sagen sie. Arnold ist dabei vor allem für die fotografische Ablichtung zuständig, La Speranza als Historiker für die geschichtliche Einbettung der Funde. Er beschäftigt sich bereits seit Jahren mit der Wiener Stadtgeschichte, hat Dutzende Bücher dazu veröffentlicht und ist etwa Kurator der Flakturmausstellung "Erinnern im Innern" im Haus des Meeres.

Das Erforschen der Kunst im öffentlichen Raum hat auf den ersten Blick kaum etwas mit dem Aufspüren und Dokumentieren von verlassenen Orten zu tun, – geschweige denn mit dem umständlichen bis riskanten Entern dieser, worin für manche in der Szene erst der Reiz liegt –, auf den zweiten aber doch: "Überspitzt gesagt, sind auch die Bildnisse eine Art Lost Place", sagt Arnold. "Viele kennen sie nicht oder sie werden nicht beachtet, manche blättern ab oder verschwinden ganz." Manche sind womöglich Fassadensanierungen zum Opfer gefallen, andere bloß dem grobmotorischen Griff der Zeit oder in die Höhe geschossenen Baumkronen: Arnold erzählt von einem Mosaik in der Nähe des Franz-Josef-Bahnhofs, das die Eisenbahngeschichte in Wien abbildet und vor dem in den 60ern Bäume gepflanzt worden wären, die es inzwischen vollständig verdecken. Einige Kunstwerke wurden auch abgebaut, weil ihre Schöpfer inzwischen berühmt und sie daher zu wertvoll geworden waren.

Viele sind aber nach wie vor sehr gut erhalten, wie etwa das Mosaik eines Gebäudes, das in den 30er Jahren erbaut wurde, an der Ecke Operngasse und Margaretenstraße. Es zeigt die Geschichte des Freihausviertels. Das Freihaus war im 17. Jahrhundert einer der größten Wohnhauskomplexe seiner Zeit, wurde durch mehrere Brände zerstört, während der Osmanenbelagerung 1683 sogar komplett geschliffen zugunsten eines freien Schussfelds, und immer wieder auf- und weitergebaut, glich einer Art Stadt in der Stadt. All das erzählt das Mosaik, das sich um einen Balkon im ersten Stock biegt, in Wort und Schrift.

Ein Wandbild schräg gegenüber in der Operngasse zieht sich über drei Etagen und legt die Gebäude des alten Freihauses über die neuen Straßenzüge des Viertels. Ganz in der Nähe erinnert im Papageno-Hof übrigens eine bunte Keramikskulptur des Flöte spielenden Vogelfängers aus dem Jahr 1937 an die Uraufführung von Mozarts Zauberflöte im Freihaustheater, das von Emanuel Schikaneder geleitet wurde. Das Freihaus wurde bis 1937 größtenteils abgerissen, die letzten Reste des Komplexes in den 70ern abgetragen.

Als wir unseren Weg durch den 4. Bezirk fortsetzen, schwärmt Arnold vom Vogelweidhof gegenüber von der Stadthalle, den der Volksmund auch als Märchenhof kennt. Die Deckenfresken in den Lauben von Franz Wacik aus den späten 1920er-Jahren zeigen Wiener Sagen und Märchenszenen mit Zünftern wie dem tapferen Schneiderlein. "Ich musste mich auf den Boden legen, damit ich das alles auf ein Foto bekomme", lacht Arnold.

Das alles fing an mit einem Mosaik in seiner Nachbarschaft, das zwei Zeiserlwagen zeigt, die die Wiener zur kollektiven Zerstreuung am Wochenende in die Vororte kutschieren. "Ich bin 20 Jahre lang daran vorbeigegangen", sagt er. La Speranza witterte den stadthistorischen Kontext dahinter und ließ sich von Arnolds Begeisterung anstecken. Zweieinhalb Jahre lang haben sie alle Bezirke sukzessive durchforstet. Manchmal mit Plan – besonders viele Kunstwerke dieser Art finde man in Bezirken, in denen viele Gemeindebauten aus den 50ern stehen, etwa im 10., 11. oder 12. Bezirk –, manchmal auf gut Glück: Die Gemeindebauten sind zwar im Internet verzeichnet, aber Kunst am Bau ziert auch private Wohnhausanlagen und Genossenschaftsbauten.

Besonders nachhaltig beeindruckt hat Arnold das Mosaik vom Elefanten Soliman in Simmering. Im Schloss Kaiserebersdorf befand sich im 16. Jahrhundert die erste Menagerie Europas, und in ihr mit Soliman auch der erste Elefant, der einen Fuß auf Wiener Boden gesetzt hat, als Maximilian II. 1552 auf ihm einritt. Soliman war ein Hochzeitsgeschenk der spanischen Kronprinzessin Johanna an ihn und Maria von Spanien. "Ich dachte immer, dass Schönbrunn der erste Tiergarten in Wien war. Dass es 200 Jahre davor im jetzigen Gefängnis einen Vorgänger gab, das habe ich nicht gewusst", staunt Arnold. Heute ist die Justizanstalt Wien-Simmering im Schloss beherbergt, das Mosaik "Bürgerpaar und Elefant" befindet sich im Stefan-Achatz-Hof (1957-1959 erbaut) gegenüber und bildet das ab, was der Titel ankündigt: ein neugieriges Bürgerpaar, das den Elefanten bewundert.

Die Kunst am Bau blickt nicht selten weit in der Geschichte zurück, überspringt dabei aber gerne die dunklen Stellen oder verklärt sie. Sind Krisen dargestellt, geht es nicht nur um Leid und Elend, sondern vor allem um ihre Überwindung. In der Großen Neugasse schwingt auf dem etwa vier Stockwerke hohen Sgraffito zwar die ausgezehrte, personifizierte Pest ihre Geißel über Wien, aber gleich darunter stiftet Kaiser Karl VI. die Karlskirche, die nur etwa 800 Meter Luftlinie von hier entfernt ist, als Erinnerung an die Bezwingung der Epidemie. La Speranza fällt auf, dass die Gasse mehrere architektonische Epochen aneinanderreiht: Rechts von der Pest steht ein Gründerzeithaus mit üppigem Fassadenschmuck, links davon ein Bau mit großen, bunten Kreisen, die Arnold in den 70ern oder 80ern verortet.

"Wer weiß, vielleicht gibt es irgendwann ein Corona-Mosaik", munkelt La Speranza. Auf dem Rückweg stoßen wir zufällig auf das etwa handtellergroße, höchstwahrscheinlich erst kürzlich entstandene Mosaik eines verpixelten Space Invaders aus dem gleichnamigen Computerspiel, bei dem sich die Spieler gegen angriffslustige Aliens zur Wehr setzen müssen. Es kann wohl kaum als dokumentarische Abbildung eines wichtigen Ereignisses der Stadtgeschichte durchgehen. Oder vielleicht: Noch nicht?