Das, worum es hier geht, ist an sich farb-, geruch- und geschmacklos. Und letztendlich absolut tödlich. Aber es bringt einen wenigstens nicht schon nach ein paar Atemzügen um wie das Kohlenmonoxid, das man ebenfalls nicht sehen, riechen oder schmecken kann. Das Leben? Kalt. (Oder sooo kalt auch wieder nicht.) Die Zeit vielmehr. Es vergeht bekanntlich kein Tag ohne sie. (No na.)

Paul Klee hat einmal gesagt, die Linie, das sei "ein Punkt, der spazieren geht". Und bei der Martina Kresta flaniert halt der Zeitpunkt. Vielleicht ist die Zeit, dieses schwer zu definierende Phänomen (Zeit ist relativ, ist Geld, ist das, was die Uhr anzeigt, oder schlichtweg das, was geschieht, wenn sonst nichts passiert), vielleicht ist die Zeit ja überhaupt einfach ein lustwandelnder Moment. Oder genau genommen marschiert er im vorliegenden Fall ständig im Kreis, der Zeitpunkt. Bzw. nähert er sich diesem lediglich an, dem Kreis, der sich freilich niemals schließt. Bewegt sich unentwegt auf die perfekte Rundung zu, umschwärmt die geometrische Vollkommenheit förmlich, ohne sie jemals zu erreichen. Weil das in Wahrheit gar keine zarten, sich fast aneinanderschmiegenden konzentrischen Kreise sind. Sondern eine Spirale ist. Auf jedem Blatt eine neue. 

Die Zeit läuft trotzdem nicht zum Urknall zurück

Das Hier und Jetzt (die auf den Punkt gebrachte Zeit, der Zeitpunkt) verlängert sich auf der Fläche (sprich dem Papier) zur potenziell unendlich langen, dünnen Linie, zur Geraden, die sich einrollt wie die Rille einer Schallplatte. Die Kresta ist nämlich eine Chronografin, eine Zeitschreiberin, die dem Wesen der Zeit auf der Spur ist, deren Fährte aufgenommen hat. Und sie ist eine gewissenhafte Verwalterin ihrer eigenen Lebens- und Arbeitszeit, die die Stunden, Tage, Wochen mit ihrem Zeiterfassungsgerät (dem Bleistift oder der Tuschefeder) penibel festhält.

Ziemlich zerknittert. Na ja, das ist eben ein "Greis" (laut Bildtitel). Betagt aussehender Grafit-"Oneliner" von Martina Kresta. (Aufzeichnungen von 26. Mai bis 13. September 2015.) 
- © artmark galerie, 2023

Ziemlich zerknittert. Na ja, das ist eben ein "Greis" (laut Bildtitel). Betagt aussehender Grafit-"Oneliner" von Martina Kresta. (Aufzeichnungen von 26. Mai bis 13. September 2015.)

- © artmark galerie, 2023

Präzise, freihändig angefertigte Einlinienzeichnungen ("Oneliner"), wo sich der einzige vorhandene Strich spiralig von außen nach innen windet. Entgegen dem Uhrzeigersinn. Und trotzdem läuft die Zeit nicht rückwärts, nicht Richtung Urknall, bei dem sie laut einer gängigen Theorie geboren worden ist. (Obendrein soll sie damals aus einem Punkt geschlüpft sein, einem verschwindend kleinen. Aus einer mysteriösen Singularität. Zusammen mit dem Rest vom Universum.) Okay, auf dem rechtsdrehenden Plattenteller tastet die Nadel die Tonspur doch genauso gegen den Uhrzeigersinn ab und die Musik wird dennoch in der richtigen Richtung abgespielt, oder? 

"Einladung": Etwas in eine Lade stopfen?

"25 Jahre Aufzeichnungen von bis", verkündet die Einladungskarte zur aktuellen Ausstellung in der artmark galerie. Denn ein Vierteljahrhundert hält sie bereits durch, die Künstlerin, die 13,8 Milliarden Jahre nach der mutmaßlichen Geburt der Zeit auf die Welt gekommen ist (konkret: 1976), und verfolgt mit schier übermenschlicher Geduld und Kondition ihr Langzeitprojekt. Nimmt das Diktat der Zeit auf. (Apropos "Einladung". Das bedeutet zwar nicht: "etwas in eine Schublade stopfen", Laden kommen allerdings sehr wohl welche vor.) Vor 25 Jahren habe sie sich entschieden, keinen ästhetischen Maßstäben mehr genügen zu wollen, "nichts mehr zu machen, was gefällig ist". Und davor? "Hab ich normal gezeichnet."

In der Lade gut aufgehoben: Oneliner aus Martina Krestas "Match Cut" (Aufzeichnungen von 11. bis 17. Juli 2007). 
- © artmark galerie, 2023

In der Lade gut aufgehoben: Oneliner aus Martina Krestas "Match Cut" (Aufzeichnungen von 11. bis 17. Juli 2007).

- © artmark galerie, 2023

Tatsächlich könnte einem anfangs der Gedanke kommen, ob da nicht jemand einen Klescher hätte. Oder mindestens eine Manie. Dauernd Spiralen, bitte. Wobei die Akkuratesse, mit der sie diese zu Papier bringt, die Kresta, zugegebenermaßen äußerst beeindruckend ist. Wie ihre Ausdauer. Und Perfektion, selbst wenn es bloß eine ungefähre ist, erfüllt durchaus höchste ästhetische Maßstäbe. Außerdem inszeniert Kresta die unermüdliche Wiederholung des scheinbar Gleichen immer wieder anders. Bettet das Motiv kreativ in immer neue Kontexte und Konzepte ein. Abgesehen davon, dass keine zwei ringförmigen "Oneliner" identisch sind, alle unterschiedliche Durchmesser haben, je nachdem, wie viele Minuten, Stunden in ihnen gespeichert sind.

Was macht denn das Einhorn da? Schillern. (Übrigens ein Pinsel, mit dem Martina Kresta einen Kreis gezogen hat.) 
- © artmark galerie, 2023

Was macht denn das Einhorn da? Schillern. (Übrigens ein Pinsel, mit dem Martina Kresta einen Kreis gezogen hat.)

- © artmark galerie, 2023

Die minimalistischen Geschichten, die mit beinah epischer Ausführlichkeit von der Vergänglichkeit erzählen, vom Verlust, dem Erinnern und Vergessen, werden jedenfalls nie fad, obwohl ihrer Verfasserin die Langeweile ein Anliegen ist. Noch dazu die Langeweile in Echtzeit. Die wäre vom Aussterben bedroht, weil "sobald sie aufkommt, lenkt man sich ab", meint Kresta, die sie bewahren will, die Fadesse. Gemeinsam mit der Langsamkeit. Na ja, in die Liste des immateriellen Kulturerbes wird die Unesco die Langeweile vermutlich nicht aufnehmen. Womöglich sind die abrupt im weißen Nichts endenden Spiralen, die mit unerschütterlicher Gelassenheit eine innere Ruhe, eine zentrale Leere einkreisen, also meditative Annäherungen an dieses Unlustgefühl der reizlosen Monotonie, an die Langeweile eben. 

Die Erinnerungen aus dem Vergessen ausgraben

In jedem Galerieraum eine andere Interpretation des Themas; jeder hat seinen ganz eigenen Charakter, wird zum individuellen "Zeitraum". Die Grabkammer beispielsweise. Oder handelt es sich eher um einen Seziersaal? Schließlich hat Kresta die Bürokratie zerstückelt, total auseinandergenommen. Die Herrschaft des Büros, der Schreibtische, der Zettelwirtschaft? Gut, nur ein behördengraues Schubladenschränkchen. Hat diesen metallenen Stauraum für Pläne und Zeichnungen aus ihrem Atelier gründlich "analysiert", in seine Einzelteile zerlegt und diese wiederum sauber geordnet und sortiert über die Wände verteilt. (Kresta: "Bis zur letzten Schraube.") Die Anatomie eines Planschranks. Das Gegenteil vom Ikea-Prinzip. Kein Selbstbaumöbel, ein Selbstzerstörungsmöbel.

Martina Kresta hat ihren Planschrank seziert. 
- © artmark galerie, 2023

Martina Kresta hat ihren Planschrank seziert.

- © artmark galerie, 2023

Ja, die Schienen, die wie Rippen aneinanderhängen, dürften ziemlich brutal aus dem "anatomischen" Zusammenhang gerissen worden sein. Das war offenbar was Persönliches. Eine Tat im Affekt. Stimmt. Immerhin war der Schrank ein Grab. Für leichenbleiches Papier, längst vergessene Arbeiten, die in seinen übervollen Laden in Frieden geruht haben. Nicht rausgeben wollte er diese, hat geklemmt. Drum musste die Künstlerin die Erinnerungen notgedrungen mit Gewalt aus dem Vergessen ausbuddeln. Schaut mir ein bissl nach Notwehrüberschreitung aus. Wurscht. Die Laden dienen nun zumindest als Rahmen für diverse Grabschätze, rahmen die empfindlichen "Aufzeichnungen vom 11. bis 17. Juli 2007" wie eine Rüstung.

Nichts verkommen lassen. Die behördengrauen Laden des zerlegten Planschränkchens arbeiten jetzt als Bilderrahmen. Enthalten Martina Krestas Aufzeichnungen vom 11. bis 17. Juli 2007. 
- © artmark galerie, 2023

Nichts verkommen lassen. Die behördengrauen Laden des zerlegten Planschränkchens arbeiten jetzt als Bilderrahmen. Enthalten Martina Krestas Aufzeichnungen vom 11. bis 17. Juli 2007.

- © artmark galerie, 2023

Eine Woche hat 168 Stunden, die Hälfte davon, 84, hat Kresta spiralförmige Linien gezogen. Zehn Stunden, acht Stunden, sechs Stunden am Stück. Ununterbrochen? Keine Pinkelpausen? "Natürlich muss man auch essen und schlafen", stellt Kresta klar. "Es gibt so was wie a Biologie." Nachsatz: "Und man ist nicht jeden Tag gleich munter und gleich konzentriert." Lauter Ausschnitte aus der Ewigkeit, Geduldsproben. Eine Stunde und 45 Minuten: Die fehlende Viertelstunde wird auf einem zweiten Blatt hinter dem ersten nachgereicht, scheint wie ein schwacher Mond, ein Trabant der nichtvollen Stunde, durchs Transparentpapier. 

Die Taschenlampe ist eigentlich ein Blindenstock

Der "Aufzeichnung vom 23. Jänner bis 19. März 2023" nebenan sieht man die vier Arbeitsstunden täglich (und das für acht Wochen, wohlgemerkt) wiederum nicht im Geringsten an. Ein einschüchterndes Andachtsbild der Leere. Weil auf dem Kulissenkarton nix drauf ist. Außer dieser leisen Ahnung von einem Etwas, dieser vagen, verblassten Erinnerung an einen riesigen Ring. Und außer: unsichtbarer Agenten-Tinte.

Dieser Kulissenkarton ist nicht leer, auf dem ist sehr wohl etwas drauf, nämlich eine unsichtbare Zeichnung, an der Martina Kresta vier Stunden pro Tag (und das acht Wochen lang) gewerkt hat. Titel: "Jenseits des V-Ausschnitts." 
- © artmark galerie, 2023

Dieser Kulissenkarton ist nicht leer, auf dem ist sehr wohl etwas drauf, nämlich eine unsichtbare Zeichnung, an der Martina Kresta vier Stunden pro Tag (und das acht Wochen lang) gewerkt hat. Titel: "Jenseits des V-Ausschnitts."

- © artmark galerie, 2023

Ein unsichtbares Bild? Will die den Betrachter/die Betrachterin häkerln? Das ist ja wie ein homöopathisches Aquarell, gemalt mit Wasserfarben, die folglich so stark verdünnt sind, dass ein Chemiker ihnen kein einziges Pigment mehr nachweisen kann. Oder wie ein homöopathischer Rorschachtest. Nein, ist es nicht. Zumal homöopathische Aquarelle und Rorschachtests unsichtbar bleiben, während einem in der Galerie ein Sehbehelf zur Verfügung gestellt wird: ein UV-Lamperl. Mit dessen Strahl, der das Verborgene nach und nach ans Licht bringt, das Geheimnis enthüllt, kann man sich auf der weitläufigen weißen Fläche dann orientieren, sie wie mit einem Blindenstock abtasten.

Deshalb übrigens heißt das imposante Opus "Jenseits des V-Ausschnitts". Das hat nämlich nichts mit des Kaisers neuen Kleidern zu tun oder damit, dass des Kaisers neuer Pullover zufällig einen V-Ausschnitt hätte, sondern mit dem Lichtspektrum. Violett kann das menschliche Auge gerade noch wahrnehmen, Ultraviolett (wörtlich: jenseits von Violett; lateinisch "ultra" = jenseits) ist bereits zu kurzwellig, befindet sich jenseits des sichtbaren Frequenzbereichs.

Erst das UV-Licht macht die Spirallinie lesbar, für die Martina Kresta 224 Stunden gebraucht hat. ("Aufzeichnung von 23. Jänner bis 19. März 2023.") 
- © artmark galerie, 2023

Erst das UV-Licht macht die Spirallinie lesbar, für die Martina Kresta 224 Stunden gebraucht hat. ("Aufzeichnung von 23. Jänner bis 19. März 2023.")

- © artmark galerie, 2023

Hm, und woher kommen die dezenten Schatten auf dem Karton? Von der schwarzen Kleidung der "Agentin" ("Ich hab kein weißes Arbeitsgewand"), die über ihr Einsatzgebiet, den auf dem Boden liegenden Bildgrund, "regelrecht gerobbt" ist. Ergo eh Schwarz auf Weiß, Künstlerin auf Zeichenkarton. Witzigerweise sind die mitausgestellten obligaten "Abstrichblätter" (56 an der Zahl, für jeden Tag eines) die gleichen Geheimniskrämer. Abstrichblätter? Papierstückerln, an denen die überschüssige Zeit abgestreift wird, weil sie sonst patzt. Tschuldigung: die überschüssige Tinte

Wie nennt man einen alten Kreis? Greis!

Nach der Grabkammer und der Kapelle: ein Altersheim? Die geriatrische Abteilung der Schau? An der Stirnwand drückt sich ein zerknitterter "Greis" (Bildtitel) herum. Greis: Ein betagter Kreis? Ausnahmsweise ja. Respektive ist das Papier der hyperfeinen "Aufzeichnung vom 26. Mai bis 13. September 2015" faltig, zerschlissen und ausdrucksstark wie das Gesicht von Rembrandts Mutter, porträtiert von ihrem berühmten Sohn. Das hat definitiv Charakter. Und die Knicke und Risse zeugen (wie die in einem Röhrchen gesammelten abgesplitterten Grafitminen) von einem intensiven Arbeitsprozess.

Detail aus Martina Krestas Oneliner "Greis" (Aufzeichnung von 26. Mai bis 13. September 2015). 
- © artmark galerie, 2023

Detail aus Martina Krestas Oneliner "Greis" (Aufzeichnung von 26. Mai bis 13. September 2015).

- © artmark galerie, 2023

Derweil welken "naturgeschöpfte Zeichenblätter" beschaulich vor sich hin. Originell, die angeblich sowieso von selber abgefallenen Blätter einer Zimmerpflanze der Gattung Schefflera so zu nennen. Und wenn sie wer gepflückt, eigenhändig vom domestizierten Grünzeug abgezupft hätte? Wären die Blätter dann handgeschöpft? Grün waren sie auf alle Fälle, als Martina Kresta sie knapp vor der Vernissage mit ihrem Markenzeichen markiert hat, ihrer Spirale, sie mit Feder und Tusche je 15 Minuten beim Verdorren begleitet hat. Eine lebende Nature morte. Vanitas live. Ob sie, die nonchalant verstreuten Blätter, inzwischen rembrandtbraun sind?

Die Zeitlupe? Jedenfalls ein Vergrößerungsglas zur genaueren Betrachtung von Martina Krestas Zeitaufzeichnungen. 
- © artmark galerie, 2023

Die Zeitlupe? Jedenfalls ein Vergrößerungsglas zur genaueren Betrachtung von Martina Krestas Zeitaufzeichnungen.

- © artmark galerie, 2023

Und die leibhaftige Lupe? Ist das diese ominöse Zeitlupe? Theoretisch. Und praktisch vergrößert sie die Schaulust, erlaubt sie einem, einen noch intimeren bewundernden Blick auf diese Akribie zu werfen. Nicht, dass man sich nachher leichter täte zu glauben, dass das alles frei Hand gezeichnet worden ist. Zeit ist nun einmal harte und vor allem: Präzisionsarbeit. Eine Lupe benötigt die Künstlerin hingegen nicht. Die hat sie von Natur aus eingebaut. Insofern, als sie kurzsichtig ist. Drei Dioptrien hat sie und nie eine Brille getragen. ("Mein Augenarzt hat gemeint: Wenn ich nicht Auto fahr, sondern nur zeichne, brauch ich ka Brille.") 

Und jetzt Pinselhaare aus echter Einhornmähne

Zum Schluss kommt ihre Kunst endgültig zur Ruhe. Mit schwungvoller, breiter Geste kringelt die Künstlerin einen Augenblick ein, einen Moment der Stille, und deckt mit diesem Enso, diesem beliebten Kreisbild der japanischen Kalligrafie, kurzerhand das Klavier zu. (Aha, das Musikzimmer offensichtlich.) Oder entrollt besagtes Symbol der Leere und Erleuchtung kontemplativ an der Wand.

Die Werkzeuge, mit der sie diese spirituelle Übung ausgeführt und die Gegenwart während eines einzigen Ausatmens zügig im Jetzt konzentriert hat, sind Teil der Installation: ein Einhornkopf und Fische mit Borsten in offenen Schatullen. Kitschiges China-Glumpert. Entdecke ich da etwa Humor? Eine Parodie auf den Pinselkult der Kalligrafen?

Existenzielles, Poetisches, Witziges – und eine einzige Linie reicht ihr dafür, der Kresta.

Das Einhorn und sein Werk. Bzw. hat es der Martina Kresta ja bloß bei ihrer kalligrafischen "pittoresken Aufzeichnung" ("Airos", 2023) assistiert. Als Tuschepinsel. 
- © artmark galerie, 2023

Das Einhorn und sein Werk. Bzw. hat es der Martina Kresta ja bloß bei ihrer kalligrafischen "pittoresken Aufzeichnung" ("Airos", 2023) assistiert. Als Tuschepinsel.

- © artmark galerie, 2023