Da schaut und hört eine offenbar ziemlich genau hin. Fokussiert zumindest auf das unscheinbare optische oder akustische Detail und schält es aus dem großen Ganzen heraus, in das es quasi im Zwiebellook eingehüllt ist (oder bettet die Tania Pérez Córdova, Jahrgang 1979, es vielmehr in das große Ganze ein?): "A drip in a room in a house in a town in a country."
Am Ende ist zwar ein Punkt (nur einer, der sogenannte Schlusspunkt), trotzdem könntens genauso gut drei sein, wie und so weiter, zumal das noch nicht die letzte Zwiebelschicht war. Danach kämen schließlich noch "a continent", "a planet", "a solar system", "a galaxy" und "the universe" (oder "a universe" – falls man ein Anhänger der Multiversumtheorie ist).
Eisklumpen mit Ohren
Ja, vielleicht lokalisiert der Ausstellungstitel den Tropfen bzw. das Tröpfeln (denn "drip" kann beides bedeuten) nicht an einem konkreten Ort. Der Besucher/die Besucherin weiß freilich eh, wo er/sie sich gerade befindet. Nämlich in der Galerie Martin Janda in Wien in Österreich. Und dort tröpfelt es also. Regnen tuts zwar auch, aber nicht so "richtig". Jedenfalls nicht flüssig. Die Tropfen (nicht die vom Regen, wohlgemerkt) sind dagegen durchaus nass.

Zwei Gussformen, die obere lässt ihre Gedanken (aus Eis) melancholisch in die untere tropfen: "Thinking" (2023) von Tania Pérez Córdova.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy Galerie Martin Janda, ViennaJeden Tag aufs Neue schmilzt ein Eisklumpen mit Ohren vor sich hin, trieft er lethargisch aus der einen Gussform in einen weiteren Abguss desselben Gesichts, in eine zweite hohle Negativform, in der sich nachher unter dem langsam steigenden Wasserspiegel Nase, Wangen, Stirn, Mund herausmodellieren. Augen und Lippen sind geschlossen, als wäre das das Antlitz der Ruhe höchstpersönlich. (Der letzten womöglich. Rest in peace.) Oder des Schlafes, der statt Schäfchen Tropfen zählt. Ein Mikrofon belauscht den Schläfer. Nicht, um eventuell ein Schnarchen aufzuschnappen, sondern den rhythmischen Aufprall der Tropfen einzufangen, das Geräusch der Vergänglichkeit, und es live (und verstärkt) in den Keller zu übertragen. So gesehen "a drip in two rooms".
Theoretisch. In der Praxis hat es bei meinem Besuch blöderweise technische Probleme gegeben, hat es mit dem Soundtrack der besinnlich konzeptuellen Schau leider nicht geklappt, mit dem unberechenbaren flüssigen Ticken, einer Art Countdown, der ungefähr nach zwei Stunden bei null angelangt sein soll. "Thinking" heißt das Opus. Das Denken bringt den Kopf sichtlich zum Schwitzen. Und worüber sinniert er, der auftauende Verstand, während er sich seinen flüchtigen Gedanken hingibt? Über die Schnelllebigkeit? Die Vanitas? Und löst sich in Tränen auf, zerfließt darob in Trauer?
Die Zeit ist eine Allesfresserin
Und selbst, wenn nicht geweint wird, sondern eben bloß gedacht, hat dieses stille Gedenken etwas Melancholisches. Wie alles hier, das vom Werden und Vergehen berichtet, von Erneuerung und vom ständigen Wandel.

Tania Pérez Córdova begrünt und "beregnet" die Galerie Martin Janda.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy Galerie Martin Janda, ViennaIn der Natur, beim natürlichen Wasserkreislauf, geht nix verloren, ändert das H2O lediglich seinen Aggregatzustand, verdunstet in Meeren, Seen und in geringerem Maße an Land, steigt als Luftfeuchtigkeit empor, die wiederum zu Wolken kondensiert und irgendwann als Niederschlag runterkommt, in die Gewässer zurückkehrt (in die überirdischen oder ins unterirdische, ins Grundwasser). Und in der Kunst, wo es ein bissl anders funktioniert, "verkühlt" sich das Wasser regelmäßig außerhalb der Öffnungszeiten. Verbringt es halt die Nächte im Gefrierschrank, erstarrt bei Minustemperaturen zur vermeintlichen Ewigkeit.
Mit exotischen Zimmerpflanzen hat die Künstlerin (geboren, lebt und arbeitet in Mexico City) die Zeit ebenfalls gefüttert. Nicht, dass die eine Vegetarierin wäre, die Zeit. Die ist eine Allesfresserin, hallo? Außerdem sind die Blätter (Philodendron und Streifenfarn), die sich samt – künstlichem – Stängel vor der Wand zu einem Halbkreis runden, nicht echt (höchstens echtes Plastik), die Löcher allerdings schon. No na, wie soll man die auch faken? Entweder etwas ist ein Loch oder – nicht. Vor allem jedoch hat Tania Pérez Córdova jene, die bei einem Schädlingsbefall entstehen, gewissermaßen in freier Wildbahn studiert, und jetzt nieselt der feine Schnürlregen durch ein authentisches Fraßmuster.

Konzeptuelle Romantik mit vergoldeten Messingketten: Goldregen fällt durch die Kopie eines zerfressenen Philodendronblattes. Detail aus Tania Pérez Córdovas "Philodendron Verrucosum" (2023).
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy Galerie Martin Janda, ViennaSchnürlregen? Am Plafond aufgehängte lange, dünne, vergoldete Gliederketten, die von der Schwerkraft förmlich wie Harfensaiten gespannt und sozusagen vom Licht gespielt werden, das ihnen sanfte Reflexe entlockt, goldige Töne herauszupft.
Eine Glocke ist eine Glocke ist eine Glocke ist doch keine
Daneben fällt eine Kaffeepause ins Wasser, der Goldregen auf eine häusliche Szene (Tasse, abgestellt auf Hocker). Respektive ätzt er sich einfach durch: durchs Porzellan und das Holz. Aber seltsamerweise nicht durch den Galerieboden. Ein subtil surrealer, fragiler Moment, der innehält; ein eingefrorener Augenblick, der nicht blinzelt.

Der Regen geht in Tania Pérez Córdovas Opus "A drip in a room in a house" (2023) einfach durchs Porzellan durch.
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy Galerie Martin Janda, ViennaUnd die Glocke am viel zu langen Seil? Ist sowieso keine Glocke. Ist genauso wenig eine, wie dem René Magritte seine Pfeife eine Pfeife ist. Seine gemalte Pfeife. Die nun einmal nur das Bild von einer Pfeife ist. Mit der Glocke, deren Titel übrigens nicht lautet "Ceci nest pas une cloche" (Dies ist keine Glocke), verhält es sich dennoch um einiges komplizierter. Dabei sieht sie aus wie eine Glocke, besteht sogar zu 100 Prozent aus Glocke (und nicht allein aus demselben Material, sprich aus Bronze).
Und warum ist sie dann keine? Weil Pérez Córdova sie in eine Skulptur transferiert hat. Doch nicht etwa, indem sie sie kurzerhand zu einem Kunstwerk erklärt hätte, zu einem Readymade. Sooo leicht macht es sich die Mexikanerin nicht. Stattdessen hat sie das Fundstück eingeschmolzen und neu gegossen. In dessen eigener Gussform, die also zuvor von der Glocke abgenommenen worden ist. Ach, deswegen "A bell into a bell".
Die Glocke erhebt sich wie der Phönix aus der Asche (oder eigentlich ersteht sie aus der Schmelze wieder auf). Andererseits zerstört die Kopie das Original. Oder verschmilzt streng genommen untrennbar damit. Wenngleich die Nicht-Glocke Fehlstellen hat, unvollständig ist, angeknabbert wirkt. Was daran liegt, dass beim Produktionsprozess Material "verschwindet". Könnte man im Prinzip wiederholen, bis die Glocke komplett vergessen, nichts mehr von ihr übrig ist.
Erinnerung an einen Klangkörper
Generell verdanken sich bildhauerische Werke (speziell welche aus Stein oder Holz) nicht zuletzt dem Materialschwund und dessen kreativem Potenzial. Dem Wegnehmen von Substanz, von Masse. Anders als in dieser Anekdote, wo ein Bildhauer gefragt wird, ob es denn schwer sei, einen Löwen in Stein zu meißeln, und der darauf antwortet: "Nein, überhaupt nicht; man muss bloß alles wegschlagen, was nicht nach Löwe aussieht", hat Pérez Córdova freilich von Anfang an alles weggelassen, was unglöckisch anmutet. Tja, das ist eine Bronzeskulptur, keine aus Marmor.

Die Glocke, ausnahmsweise einmal nicht von Friedrich Schiller, sondern von Tania Pérez Córdova: "A bell into a bell" (2021).
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy Galerie Martin Janda, ViennaMit der Erinnerung an einen Klangkörper hat man es anscheinend zu tun. Eine Glocke besinnt sich lückenhaft auf sich selbst, vage aufs Läuten, aufs Schlagen der Stunde. Ist verstummt wie jene (vor vier Jahren hier ausgestellte) Trompete, die Pérez Córdova einem Straßenmusiker abgekauft hatte und die bald ebenso kein Musikinstrument mehr gewesen ist, nachdem sie dieselbe Transformation in ein skulpturales Abbild ihrer selbst durchgemacht hatte wie die Glocke. Und wie der dürstende Wasserhahn im ersten Stock, der nimmer "kräht", nicht einmal mehr seinen eigenen Durst löschen oder wenigstens noch tropfen kann.
Informationen wie Insekten zerdrücken
Bis zur Unkenntlichkeit sind dafür die analogen Informationen umgewandelt worden, die auf einem schleierdünnen, feinmaschigen "Vorhang" wie zerquetschte Insekten picken und einem zusammen mit diesem die Aussicht vernebeln. Doppelt vernichtete Akten. Professionell geschreddert (von einer darauf spezialisierten Firma), und später hat die Künstlerin obendrein noch Papiermaché aus den Schnipseln gemacht und ist mit einem zarten Netz in diesem Daten-Brei fischen gegangen. Ein Informationsfilter? Aber wird da gefiltert, um zu memorieren oder zu vergessen? Oder memoriert, um zu vergessen?
Sehr "materialistisch", die unaufdringlich tiefsinnige Kunst von Tania Pérez Córdova. Das Material ist auf alle Fälle zentral. Ein poetischer Materialismus allerdings, ein narrativer, der vom täglichen Leben erzählt, von Begegnungen und Beobachtungen, und im Kern auf lauter wahren Begebenheiten beruht.

Gefiedertes Rätsel: "A fence into a fence 7" (2018 - 2022) von Tania Pérez Córdova. (Im Keller hat das eingeschmolzene und abermals gegossene Fragment eines Aluminiumzauns ein merkwürdiges Detail mit Federn.)
- © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez, Courtesy Galerie Martin Janda, Vienna