Der nordische Pavillon zählt zu den schönsten am Gelände der Giardini. 1962 eröffnet, großzügig und lichtdurchflutet ist er ein herausragendes Beispiel der klassischen Nachkriegsmoderne und vermutlich sogar Kindern und anderen architektonisch nicht vorgebildeten Besuchern der Biennale in Venedig als der "Pavillon mit den Bäumen drinnen" in Erinnerung.

Mit dem eleganten Understatement bricht die aktuelle Ausstellung jedoch konsequent. Unbearbeitete Baumstämme, Rentierfelle, grob zusammengezimmerte Wände, in traditionelle Tracht gekleidete, rotbäckige Menschen . . . Kurz wähnt man sich in einer Folklore-Ausstellung, bis man versteht, dass die Installation des norwegisch-samischen Künstlers und Architekten Joar Nango ein samisches Architektur-, Wissens- und Materialarchiv ist, das in mehr als 15-jähriger Arbeit kollektiv zusammengetragen wurde. Und dass die Einordnung als Folklore genauso den eigenen Vorurteilen entspringt wie die - imaginären - roten Wangen der anwesenden samischen Künstler, Architektinnen und Handwerker.

Die Installation "Moving Ecologies" - zu sehen im Chile-Pavillon. - © apa / afp / Vincenzo Pinto
Die Installation "Moving Ecologies" - zu sehen im Chile-Pavillon. - © apa / afp / Vincenzo Pinto

Nach der Kunstbiennale im letzten Jahr steht der Pavillon nun zum zweiten Mal den nordischen Ureinwohnern zur Verfügung, die die Gelegenheit weise nutzen, um voreingenommenen Architektur-Schnöseln ihre tausende Jahre alte Bau- und Gestaltungskultur, deren zeitgenössische Interpretation und dringende aktuelle Relevanz nahezubringen.

89 Teilnehmer

Ganz grundsätzlich ist es bei dieser 18. Architekturbiennale in Venedig angezeigt, Vorurteile und vorgefasste Meinungen über Bord zu werfen. Denn nicht nur in vielen der 64 Länderpavillons werden Erwartungen und Sehgewohnheiten kräftig gegen den Strich gebürstet, sondern auch in der Hauptausstellung im zentralen Pavillon der Giardini und im Arsenal. 89 Teilnehmer hat die ghanaisch-schottische Architektin und Kuratorin Lesley Lokko unter dem Titel "Laboratory of the Future" eingeladen, mehr als die Hälfte davon aus Afrika oder der afrikanischen Diaspora. 50 Prozent der ausgestellten Arbeiten kommen von Frauen. Große Namen sind auf dieser Biennale die Ausnahme, klassische Architekturmodelle ebenfalls - und das ist gut so.

Stattdessen geht es um Themen, die heute jeder Architektur zugrunde liegen: die Nutzung und Verteilung von Boden, Raum, Macht und Ressourcen vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Klimawandels. Und um die Perspektiven jener, deren Stimme oft nicht gehört wird. Es geht, mehr oder weniger, direkt oder mittelbar, um Kolonialisierung und Dekolonialisierung. Man ist gezwungen innezuhalten und nachzudenken, auch physisch, denn immer wieder schieben sich Barrieren in den Weg, etwa eine facettierte Wand aus Bauschutt und buntem Glas, Abriss-Überreste aus Brüssel, mit der die brasilianisch-paraguayische Architektin Gloria Cabral gemeinsam mit dem kongolesischen Künstler Sammy Baloji und der Historikerin Cécile Fromont an Belgiens brutale Kolonialgeschichte erinnern will.

Der US-Nigerianer Olalekan Jeyifous blickt stattdessen in die Zukunft. Er verwandelt einen ganzen Raum in den knallig-bunten Warteraum eines postfossilen Hochgeschwindigkeitstransportmittels, inklusive fescher Uniformen. Für die multimediale Vision eines vollständig dekolonialisierten Afrika hat Jeyifous sogar einen Silbernen Löwen gewonnen.

Wie untrennbar Dekarbonisierung und Dekolonialisierung sind, zeigt auch "Devenir Universidad" (Universität werden). Die Schweizerin Ursula Biemann stellt in ihrem Film Vertreter vom Amazonas-Volk der Inga vor, die daran arbeiten, ihr Wissen um den Regenwald in eine indigene Universität überzuführen und dort traditionelle Methoden zu dessen Erhalt zu lehren. Ähnliches möchte der brasilianische Pavillon vermitteln, in dem die Besucher selbst Amazonas-Erde betreten, die den gesamten Boden bedeckt und auch die Ausstellungspodeste bildet. Ein Video in der brasilianischen Ausstellung erinnert aber auch daran, dass der Wandel und die Umverteilung, der hier gefordert werden, nicht ohne Widerstand vonstattengehen. "Macht muss man sich nehmen", sagt Kuratorin Lesley Lokko und auch: "Macht zu teilen bedeutet, dass man einen Teil seiner eigenen Macht aufgibt." Bilder vom gewaltsamen Sturm des Parlaments in Brasilia im Jänner diesen Jahres zeigen, was das - auch - bedeuten kann. Für diese differenzierte Auseinandersetzung hat Brasilien den Goldenen Löwen für den besten Länderpavillon bekommen.

Mauerdurchbruch untersagt

Etwas aufzugeben, was einem (vermeintlich) gehört, tut immer weh, ob es nun Macht ist, Privilegien, Raum - oder auch Ausstellungsfläche. Das Wiener Kollektiv AKT und der Architekt Hermann Czech wollte die Hälfte des österreichischen Pavillons als Versammlungsort an seine Nachbarn im Stadtviertel Sant’Elena abgeben (die "Wiener Zeitung" berichtete) - doch die Leitung der Biennale untersagte sowohl den Durchbruch durch die Mauer der Giardini als auch eine Brücke über die Mauer hinweg. Die Brücke steht nun halbfertig im Innenhof des österreichischen Pavillons und wird damit zur lauten Kritik am Umgang der Biennale mit der Stadt, in der sie seit bald 130 Jahren stattfindet.

Auch andere Länder stellen die Institution selbst in Frage, etwa Deutschland. "Wegen Umbau geöffnet" heißt das Programm, für das nach der Kunstbiennale 2022 aus rund vierzig Länderpavillons Material gesammelt wurde, das sonst im Müll gelandet wäre. Damit wurde der Pavillon saniert und ein Versammlungsraum, eine Teeküche sowie eine Werkstatt gebaut. Mit den übrigen Materialien soll im Lauf der kommenden Monate in der Stadt Venedig repariert werden, was so anfällt.

"Die Frage, ob eine Ausstellung dieser Größenordnung gerechtfertigt ist - sowohl in Hinblick auf die ökologischen Auswirkungen als auch auf die Kosten -, hat sich wieder und wieder gestellt", sagt Lesley Lokko und gibt sich die Antwort gleich selber: Ja, denn wir müssen die Gelegenheit nutzen, um zu reden - und um zuzuhören. "Was möchten wir sagen? Wie wird das, was wir sagen, irgendetwas verändern? Und vielleicht die wichtigste Frage: Wie wird das, was wir sagen, mit dem, was ‚andere‘ sagen, interagieren und sich vermengen, sodass die Ausstellung nicht zur ‚single story‘, zur einzelnen, alleinigen Geschichte wird, sondern zu einer Vielzahl an Geschichten, die das irritierende, prachtvolle Kaleidoskop an Ideen, Kontexten, Hoffnungen und Bedeutungen widerspiegeln, das entsteht, wenn jede Stimme auf die Themen ihrer Zeit antwortet?"

Sitzstruktur oder Fassade

Den Goldenen Löwen für den besten Einzelbeitrag hat konsequenterweise DAAR bekommen, kurz für "Decolonizing Architecture Art Research". Seit mehr als zwei Jahrzehnten engagieren sich die Gründer Alessandro Petti und Sandi Hilal in Palästina und Europa im Grenzbereich zwischen Architektur, Kunst, Lehre, Aktivismus und Politik. Bei der Biennale sind sie mit einer Sitzstruktur vertreten, die, wenn man die Einzelteile zusammenschiebt, das Abbild einer faschistischen Fassade ergeben (bombastisch neoklassizistisch, wie man das zum Beispiel von Hitlers Architekten Albert Speer kennt). Auseinandergeschoben werden die Teile zu Sitzelementen, die DAAR gerne in Bürgerbeiräten verwendet.

"Mit dem Reden kommen die Leut’ zusammen", sagt der Wiener. Möge die Übung gelingen. Und das Video aus dem brasilianischen Pavillon hallt noch lange im Kopf nach.