Venedig. Es sind nicht nur ruhmreiche Spuren, die der Mensch in den vergangenen Jahrhunderten auf der Erde hinterlassen hat. Auch von Seiten der Architektur. Problemzonen sind entstanden, Konfliktzonen und Bruchlinien. Manch einstige architektonischer Neuheit ist schlicht nicht mehr kompatibel mit den Herausforderungen unserer Zeit. Wie und ob es möglich ist, diese Brüche mit den Mitteln der Architektur zu schließen, diese Frage stellte der diesjährige Direktor der Architekturbiennale in Venedig, der chilenische Architekt Alejandro Aravena als Motto über die 15. Ausgabe der Architekturausstellung.
"Reporting From the Front" heißt sein Schlagwort. Zeigt mir, woran ihr gerade arbeitet, scheint Aravena die teilnehmenden Architekten und Länder gefragt zu haben, lasst mich wissen, wo eure persönliche Frontlinie verläuft, vor welchen Herausforderungen ihr gerade steht. Und berichtet mir davon, wie ihr versucht, konstruktiv darauf zu reagieren. Ein erfrischend anderer Zugang zum Thema Leistungsschau. Die internationalen Arbeiten, die der Direktor dafür in die Hallen des Arsenale und der Giardini eingeladen hat, kreisen um konkrete Problemfelder. Unaufhaltsame Urbanisierung, der Raubbau an immateriellen wie materiellen Rohstoffen, Kombination von traditionellen und digitalen Techniken und die baulichen Reaktionen auf die Flüchtlingsströme sind die dominanten Themen.
Ziegel und unqualifizierte Arbeiter
Das, was da ist, zu bewahren und in Neues zu integrieren, taucht immer wieder auf. Bei Amateur Architecture Studios in China etwa, die den Auftrag, in Fuyang ein Museum zu bauen, nur unter der Bedingung annahmen, dass der Zerstörung der alten örtlichen Bausubstanz Einhalt geboten wird. So hat man schließlich mit der Bevölkerungen bestehende Gebäudestrukturen und Materialien untersucht und diese behutsam in das Projekt integriert. Mit dem auskommen, was vorhanden ist, damit beschäftigt sich auch Solano Benitez. Mit seinem paraguayischen Büro hat er ein einfaches System entwickelt, zwei im Übermaß vorhandene Dinge zusammenzubringen: Ziegel und unqualifizierte Arbeitskräfte. Zu sehen ist etwa ein imposanter zehn Meter hoher Bogen, der nur aus Ziegeln und Mörtel besteht.
Auch die deutsche Architektin Anna Heringer betreibt Grundlagenforschung, ihr Baumaterial ist Lehm. Aus diesem Rohstoff, aus dem Behausungen für Milliarden von Menschen gebaut sind, schafft sie auf der ganzen Welt einsetzbare Prototypen. Einen solchen Prototyp, allerdings aus Betonelementen, hat auch das indische Team der Anupama Kundoo Architekten entworfen. Ihr 15 Quadratmeter großes Haus besticht dadurch, dass die baulichen Elemente die Möbel beinhalten - Regale, Sitzmöglichkeiten, Ablage und auch Arbeitsflächen. 4000 Euro soll eines der Häuser maximal kosten, mit dem Kauf einer Matratze ist es bezugsfertig.
Wozu traditionelles Wissen in Kombination mit digitaler Technik in der Lage ist, das zeigt der wohl eindrucksvollste Beitrag der Schau: Die Block Research Group der ETH Zürich hat ihre Forschungen in eine Art digitales 3D-Puzzle einfließen lassen. Aus 399 präzise gefrästen Steinplatten ist ein 16 Meter überspannendes Gewölbe entstanden. Es ist die pure Form gewordene Schönheit der Geometrie.
Einen Blick in die Zukunft des Bauens geben auch zwei polnische Architekten. Mit "Lets talk about garbage . . ." zeigen sie neue Wege, mit Müll umzugehen. Das Porträt einer "zero waste city", in der alles wieder recycelt wird, besticht hier ebenso wie die Präsentation von neuen Baumaterialien, die etwa Plastik oder Papier wiederverwerten. Wie Städtebau in Hinblick auf die aktuellen Fluchtbewegungen stattfinden könnte, visualisiert das deutsche Büro BeL Sozietät für Architektur im Modell einer Stadt, bei der Selbstbau eine wichtige Rolle spielt. Ihre Entwürfe sehen Rohbauten vor, die sich die neuen Bewohner, die meist über wenig Geld, aber viel Zeit verfügen, selbst ausbauen können. Einige der Projekte sind bereits realisiert und zeigen, wie sehr diese Form des Bauens sich auch positiv auf die Integration der Selbstbauer auswirkt.
Aus dem Klassenzimmer in die Natur
Unter den eingeladenen Beiträgen sind auffallend viele Schulprojekte, die allesamt sehr sensibel mit den örtlichen Gegebenheiten umgehen. Eindrucksvollstes Projekt ist dabei jenes, das die Architektur in ihrer materiellen Form auflöst, weil es gänzlich ohne Wände, Decken und Türen auskommt. Das chilenische Büro elton_leniz hat Schüler aus ihren Klassenzimmern geholt und in die freie Natur geschickt, um zu zeigen, wie anders sich Gedanken unter freiem Himmel entfalten können. Dokumentiert ist dieser Prozess in 360-Grad-Videos von tristen Klassenzimmern und atemberaubender Natur. Kritik an den Mechanismen und Grenzen ihrer Zunft über viele der jungen Architekten. Sei es durch das Infragestellen der eigenen Arbeit, der Forderung eines Umdenkens und die Frage, welche Rolle Architektur spielen kann und muss angesichts der sich radikal verändernden Lebensbedingungen. Eine Branche scheint sich hier infrage zu stellen und ihren Platz neu definieren zu wollen.