
Von der Zukunft haben die Aktivisten der "Rousseau-Husaren" eine sehr klare Vorstellung. In einem perfekt animierten Kurzfilm, immerhin für einen Oscar nominiert, sieht das so aus: Die Städte, die Menschen verschwinden nach und nach zugunsten einer sich wieder frei entfaltenden Natur, es bleibt nur noch Landschaft statt Zivilisation, Grasgrün statt Betongrau, Gezwitscher statt Geplapper. Die Unterwerfung der Natur wird dann endlich beendet sein. Für Charlotte, die den Menschen noch als Teil der Natur begreift, eine unheimliche Vorstellung: "Und jetzt haben wir den Salat."
Zurück zur Natur
An der Zukunft wird schon fleißig gearbeitet: Die Naturpartei ist an die Macht gekommen, die Gesundheitspolizei hat den Konsum von Nikotin, Alkohol, Koffein, Teein, Taurin verboten. Die Menschen, noch gibt es sie, sind kerngesund, weil sie viel Sport treiben, und ist ihnen einmal danach, unternehmen sie eine virtuelle Duftreise oder berauschen sich an Bio-Kräutern - in homöopathischen Dosen, versteht sich. Das verstaatlichte Institut für Kulinarik soll eine Art "Zukunftslabor für die Entwicklung naturverträglicher Ernährung" sein, gerichtet gegen die gastronomische Plünderung der Ressourcen. Rousseaus Maxime "Zurück zur Natur" hat ihre Strahlkraft keineswegs verloren.

In dieser schönen neuen Welt, wie sie Eckhart Nickel in seinem Roman "Hysteria" entwirft, ist alles in bester Ordnung. Oder etwa nicht? Erste Zweifel kommen auf, weil die Himbeeren seltsam aussehen und die Rinder sich merkwürdig benehmen. Bergheim ist das gleich aufgefallen: ein hypersensibler, hochintelligenter, argwöhnischer Kauz mit Stil und Manieren, stets freundlich, aber selten ein Fettnäpfchen auslassend.
Mit Charlotte und Ansgar verband ihn während des Studiums am Kulinarischen Institut eine enge Freundschaft, mit der Frau sogar noch mehr. Dann verlor man sich aus den Augen. Erst als Bergheim, der Mann ohne Vornamen, den Merkwürdigkeiten der auf dem Biomarkt präsentierten Natur hinterherspürt, trifft sich das Trio zufällig am alten Studienort wieder, Charlotte nunmehr als Institutsleiterin, Ansgar als Gast-Referent und berühmter Fruchtdetektiv. Ein Wiedersehen mit Folgen.
Dank "Hysteria" schaffte es der 1966 in Frankfurt am Main geborene Nickel (der 1999 als Teil des popliterarischen Quintetts "Tristesse Royale" für erstes Aufsehen sorgte) bereits zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017: Für den dort vorgestellten Romananfang gabs den Kelag-Preis. 2018 rangierte "Hysteria" dann auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Seine unheimliche Vision einer Gesellschaft, die sich im Sinne eines totalitären Naturalismus abzuschaffen gedenkt, spielt raffiniert mit dem westlichen Zeitgeist, wonach Öko-Landwirtschaft (zumindest moralisch) die Erde retten soll. Doch die Versprechen der Bio-Revolution sind in Nickels Dystopie nicht nur ideologisch kontaminiert, und die Rückkehr in einen idyllischen Zustand scheint bei allen Anstrengungen unmöglich. Nach der Lebensmittelkrise ist vor der Naturkatastrophe.
Mit virtuoser Eleganz nimmt er sich Zeit für sein hyperrealistisches, episches Erzählen, verliert sich akkurat im Beschreiben der Details einer Natur, deren vollkommene Reproduzierbarkeit das Ideal ist, verschiebt penibel die Ebenen der Wahrnehmung, bis immer unklarer wird, was Realität ist oder Traum, Fakt oder Fiktion, wann die Illusion zur Wirklichkeit wird, die Rettung zum Debakel.
Hässliche Postmoderne
Hinter der hübschen Fassade stilistischer Brillanz versteckt Nickel die hässlichen Züge einer Postmoderne, die Fortschritt allein im Rückschritt erkennen kann.
In seinem übergeschnappten Szenario als fundamentaler Kulturkritik wird die Horrorgeschichte letztlich zum Trauermärchen, ein Liebesdrama zur Tragödie, weil sich Mann wegen Frau entgegen "seiner wahren Natur" verhalten haben soll. Doch siehe da, echtes Leben kehrt zurück in die durchkonstruierte Welt, deren genaue zeitliche Einordnung bewusst ausbleibt: Anstelle der anvisierten Abschaffung des Individuums steht seine Erneuerung. Denn im Moment größter, neu entdeckter Empathie ist der Mensch noch nicht verloren, die Zivilisation kein Feind der Natur.