Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm.

Mit diesem Satz beginnen acht Bände Stephen Kings, beginnen acht Bände "Der Dunkle Turm", beginnt ein Buch, das zu einem nächsten Buch führt, beginnen 20 Jahre Warten darauf, wie es weitergeht. Hätte man mich gebeten, bei der Bibliothekseröffnung einer Schule zu lesen, hätte ich diesen Satz zitiert, "Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm", und was er für mich bedeutet, dieser Satz.

Andrea Stift-Laube geboren 1976 in der Südsteiermark, ist Schriftstellerin und Heraus geberin der Literaturzeitschrift "Lichtungen". Zuletzt veröffentlichte sie "Schiff oder Schornstein" bei Kremayr & Scheriau. Diese Rede wurde gehalten anlässlich der Schulbibliothekseröffnung des Abendgymnasiums in Graz. - © wiki commons/Danny Di Pen
Andrea Stift-Laube geboren 1976 in der Südsteiermark, ist Schriftstellerin und Heraus geberin der Literaturzeitschrift "Lichtungen". Zuletzt veröffentlichte sie "Schiff oder Schornstein" bei Kremayr & Scheriau. Diese Rede wurde gehalten anlässlich der Schulbibliothekseröffnung des Abendgymnasiums in Graz. - © wiki commons/Danny Di Pen

Ich hätte vom Revolvermann erzählt und Susannah/Odetta und Jake und Oy, dem Billy-Bumbler, der aussieht wie eine Mischung aus Marder und Hund. Ich hätte davon berichtet, wie furchtbar es für mich und hunderttausende andere LeserInnen war, als Stephen King einen schweren Unfall hatte, und wir nicht wussten, ob er die Geschichte zum Dunklen Turm je fortsetzen, weiterschreiben, abschließen würde können. Stephen King wurde wieder gesund, er schrieb seine Geschichte weiter und es wurde zu unserer Geschichte, er schrieb sich selbst und uns alle in diese Geschichte hinein und als Oy, der Billy-Bumbler, starb, da heulte ich, als wäre mein bester Freund gestorben, und war untröstlich. Lasst Euch nicht einreden, es sei seltsam, beim Lesen eines Buches in Tränen auszubrechen.

Am 21. Juli 2007 stand ich um Mitternacht vor der Buchhandlung Feltrinelli in Rom und wartete, bis sie endlich aufsperrte. Vor mir und rund um mich hunderte italienische Harry-Potter-Fans. Wir alle warteten auf die englischsprachige Ausgabe von "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes", wir alle wurden seit zwei Jahren, seit unerträglichen zwei Jahren auf die Folter gespannt, wie es denn jetzt nun bitte weitergehen würde, jetzt, wo Dumbledore tot war, ermordet von Severus Snape, ob ich dabei geweint habe, weiß ich nicht, aber zwei Tage nach Erscheinen des Buches, am 23. Juli, auf den letzten Seiten, fast schon vor dem Ende, als sich mir die ganze traurig-schreckliche Wahrheit offenbarte, die Wahrheit hinter dem bitteren Leben des Severus Snape, da heulte ich schon wieder. Und beim zweiten Mal lesen und beim siebten Mal lesen kommen mir an dieser Stelle immer noch die Tränen.

After all this time? Always.

Lasst Euch nicht einreden, es sei uncool, beim Lesen zu heulen, würde ich bei der Eröffnung einer Schulbibliothek sagen, würde man mich fragen, lasst Euch nicht einreden, es sei uncool, überhaupt zu lesen. Lasst es Euch nicht nehmen, mitzufiebern, mitzuhoffen, mitzuleiden und mitzulieben. Hört nicht auf die, die behaupten, es reiche, die Filme gesehen zu haben. Das alles würde ich sagen, würde man mich einladen, zur Eröffnung einer Schulbibliothek ein paar Worte zu sagen, aber das passiert ja nicht mehr in Zeiten wie diesen. Das wäre ja eine absolut anachronistische Veranstaltung. Bücher. Wer braucht schon Bücher, wenn es Wikipedia gibt. Bücher, das Internet unserer Vorfahren. Lasst Euch das bloß nicht einreden.