In Huxleys "Schöne neue Welt" und Orwells "1984" konkurrieren zwei Dystopien: Zum einen eine totalitäre Herrschaft, in der der Mensch durch Überwachung und Ausmerzung von Worten unterdrückt wird ("1984"). Zum anderen eine totalitäre Gesellschaft, in der der Mensch sich zu Tode amüsiert und selbst unterwirft ("Schöne neue Welt"). Letztere Vision ist anschlussfähig an Houellebecqs Roman "Unterwerfung", in dem es vordergründig um eine Islamisierung der westlichen Welt und im Kern um eine autoritäre Versuchung geht, die Demokratie mit demokratischen Mitteln abzuschaffen.

In "Elementarteilchen" referenziert Houellebecq auf Huxley, der, wie der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans, ein Fixstern im Houellebecq’schen Denkkosmos ist. Der Romanheld Bruno feiert die Gesellschaft, die Huxley in "Schöne neue Welt" beschreibt, als "eine glückliche Gesellschaft", die keine Tragödien und keine extremen Gefühle mehr kenne. Es herrsche "völlige sexuelle Freiheit", die persönliche Entfaltung und die sinnliche Begierde würden "durch nichts mehr eingeschränkt".

Huxley habe "die grundlegende Intuition gehabt, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften seit mehreren Jahrhunderten ausschließlich durch die wissenschaftliche und technologische Entwicklung gesteuert worden ist und immer mehr gesteuert werden wird".

Man kann in der Rezeption literarischer Werke rückblickend immer irgendwelche Wahrheiten in Texte hineinlesen. Doch Literatur ist, bei aller Über- und Schönzeichnung der Realität, auch immer ein Mittel, "gefühlte" Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen. So tauchte 1851 bei Charles Baudelaire ein unverhohlener Anti-Amerikanismus auf. In seinem Werk "Fusées" schrieb er: "Die Mechanik wird uns derart amerikanisiert haben, der Fortschritt die Verkümmerung unseres geistigen Teiles so vollkommen gemacht haben, dass auch der blutrünstigste, ruchloseste und widernatürlichste aller Träume der Utopisten harmlos erscheinen wird im Vergleich zu solchen positiven Ergebnissen."

Narrative entwickeln

Literatur hat jedoch heute wie damals mit dem Problem zu kämpfen, dass sich ihre Gegenwartsdiagnostik leicht beschwichtigen lässt, dass man sie nicht ernst genug nimmt, weil sie im Reich der Fiktion spielt. Auch Baudelaire kam sich als Mahner in der Wüste vor. "Was mich angeht", schrieb der Dandy, "fühle ich manchmal in mir die Lächerlichkeit eines Propheten, ich weiß, dass ich niemals die Milde eines Arztes finden werde."

Und doch: Die frühromantische Kapitalismuskritik, das Beklagen einer mechanisierten, uniformen Welt, in der alles in materiellen Werten gemessen wird und der Zerfall von Institutionen zu einer Sinnlehre führt, ist eine Diagnose, die auch das Zeitgefühl von heute gut beschreibt. Man findet in der Literatur die Antworten auf die großen Fragen der Gegenwart. Es ist kein Zufall, dass nach der Wahl Trumps "1984" in den Bestsellerlisten landete.

Wer Sätze wie "Was Sie sehen und was Sie lesen, ist nicht das, was geschieht" (Trump) oder "Wahrheit ist nicht Wahrheit" (Trump-Anwalt Rudy Giuliani) verstehen will, muss Orwell lesen. Doch die Stärke der Literaten besteht nicht in ihrer prophetischen Gabe, sondern in der Fähigkeit, die Gegenwart zu beschreiben, Imaginationsräume zu schaffen, Narrative zu entwickeln.

Victor Hugo hielt beim Pariser Friedenskongress 1849 eine Rede, in der er die Vision eines vereinten Europas skizzierte: "Der Tag wird kommen, an dem der Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin so absurd scheinen und unmöglich sein wird, wie er heute zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia unmöglich sein und absurd scheinen würde. (. . .) Der Tag wird kommen, an dem man die Kanonen in den Museen zeigen wird, wie man dort heute ein Folterinstrument zeigt, sich wundernd, dass es so etwas gegeben haben kann."

Man kann diese Worte ex post, angesichts des Deutsch-Französischen Kriegs und der zwei verheerenden Weltkriege, die der Rede folgen sollten, als fatalen historischen Irrtum abtun. Man kann die Rede aber auch als Vision lesen, die von großer politischer Aktualität ist. Es bleibt zu hoffen, dass die Geschichte Hugo dereinst recht gibt.