Ein paar Männer gehen in Rüstungen, ein paar Frauen in bunten und züchtigen Gewändern, die jedes Fleckchen Haut unterhalb des Halses bedecken. In dem schattigen Winkel des Hauses links kräht ein Spielmann zur Drehleier. Und dort drüben wieselt ein feistes Mönchlein in brauner Kutte ums Eck, grad so, als wär es einer Buchillumination entsprungen. - Mittelalterfest in Hainburg. Es könnte auch anderswo sein. Und, ja: Viel getrunken und manch fetten Braten soll man ja auch haben in jenen Zeiten, die da heraufbeschworen werden.

Von der Lust am Fleisch zur Fleischeslust führt ein Gedicht, das kürzlich in Stift Melk gefunden wurde: Im "Rosendorn" streitet eine Jungfrau mit ihrer Vagina darüber, welcher von zwei Männern bevorzugt werden soll.
Sauerei im Mittelalter? - Nichts da vom Ritter, der auf hohem Rosse um die Jungfrau freit und sich ihretwegen in einen Buhurt stürzt oder sie sogar vor einem Drachen rettet? Was hat man denn in der Schule nicht alles gelernt von wegen hoher Minne, also der in sexueller Hinsicht aussichtslosen Liebe zu einer hochgestellten Frau!
Und dann unterhält sich eine mit ihrer Vagina! Sollte das Mittelalter ganz anders gewesen sein?
Der landläufige Blick auf das Mittelalter ist auch heute noch geprägt von der Ritterbegeisterung der Romantik. Und die Lust an der Lust ganz und gar ausgetrieben hat das Biedermeier. Im romantischen und im biedermeierlichen Filter ist alles hängengeblieben, was beide Epochen für unzüchtig gehalten haben. Herausgekommen sind tapfere Männer in Rüstungen, edle Frauen in schneeweißen Kleidern und trinkfreudige Mönche, in deren Wein sich Weisheit mischt - und allesamt sind sie dermaßen asexuell, dass die Menschheit im Grunde ausgestorben sein müsste. Für die Drachen wäre das immerhin von Vorteil gewesen.
Von der Romantik geprägt
Natürlich kündet manche Literatur des Mittelalters von genau solchen Gestalten. Nun aber fängt das Ungleichgewicht an: Da diese tugendhaften, aber ziemlich blutleeren Heldengestalten bestens in das romantische und biedermeierliche Mittelalterbild passten, wurden die ihnen entsprechenden Lieder und Epen, von denen obendrein viele tatsächlich von überragender literarischer Qualität sind, in den Bildungskanon integriert.
Fast wie ein Schock kam die erste komplette Veröffentlichung der "Carmina burana" durch Johann Andreas Schmeller im Jahr 1847, mehr als 40 Jahre nach der Entdeckung der Liederhandschrift im Kloster Benediktbeuern. Jetzt konnte man erstmals einen Text lesen wie: "Wenn der Knabe mit dem Mädchen / in der Kammer ist: Welch glückliches Zusammensein! / Die Liebe wächst bei beiden, / und wenn erst die Scham wegfällt, / beginnt ein unbeschreibliches Spiel / mit Armen, Mündern und Lippen." Aber wenigstens war das Original im konkreten Fall in Latein und in anderen Fällen in Mittelhochdeutsch und Altfranzösisch, wodurch es rein sprachlich als Museumsstück erschien. Carl Orff legte solche Texte seinen "Carmina burana" zugrunde. Intendiert hatte der bayerische Komponist ein deftiges Chorspektakel. Aber der anhaltende Welterfolg, genau genommen der letzte Dauerknüller der Musikgeschichte, hat auch mitgeholfen, ein neues Licht auf das Mittelalter zu werfen.
Nicht, dass nicht die Fachleute schon zuvor die gewissen Texte gekannt hätten. Allmählich aber tritt diese andere mittelalterliche Literatur wieder zumindest an den Rand des Rampenlichts. Und manch ein Text hat es da in sich - zumal dann, wenn es sich um, ja: geistliche Literatur handelt.
Die beiden mittelalterlichen Mystikerinnen Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg waren Nonnen, und sie dürften die Sache mit der Braut Christi ziemlich wörtlich verstanden haben. Hildegard beschreibt nicht nur anschaulich einen weiblichen Orgasmus, sie dichtet auch: "Eine triefende Wabe / war die Jungfrau Ursula, / die das Lamm Gottes zu umfangen begehrte, / Honig und Milch unter der Zunge." Immer wieder gibt es in ihren Hymnen solche Bilder, die aus dem Bereich der erotischen Lyrik zu stammen scheinen.
Der Penis im Nonnenkloster
Noch deutlicher wird Mechthild: "Herr, du bist mein Geliebter, meine Sehnsucht, / mein fließender Brunnen, meine Sonne, / und ich bin dein Spiegel." "Herr" - das könnte in diesem Zusammenhang die Anrede für den Geliebten sein, und auf gewisse Weise ist sie das wohl auch.
"Ja; Herr, liebe mich so, dass es wehtut. Liebe mich oft, und liebe mich lange! (...) Je häufiger du mich liebst, um so schöner werde ich; je länger du mich liebst, um so heiliger werde ich hier auf Erden. - Dass ich dich bis zum Schmerz liebe, das habe ich aus meiner Natur, denn ich selbst bin die Liebe. Dass ich dich oft liebe, das habe ich von meinem Begehren, denn ich begehre, dass man mich bis zum Schmerz liebt", dichtet Mechthild, und es gibt in deutscher Sprache kaum einen schöneren erotischen Text.
Wie muss das erst sein, wenn die ganz und gar weltliche Liebe das Thema ist? - Die französischen "Fabliaux" (Erzählungen) haben manch eine Pikanterie zu bieten. In der Erzählung "Le prestre teint" (der gefärbte Priester) wird ein Geistlicher der Geliebte der Frau eines Handwerkers. Ihrem Mann gegenüber begründet sie das so: "Er hat einen größeren als Ihr und einen dickeren, müsst Ihr wissen."
In den rund 150 dieser "Fabliaux" geht es nicht nur handlungsmäßig zur Sache, auch das Vokabular strotzt vor ruppigen Ausdrucksweisen, als wollten die Autoren um der Schweinigelei willen schweinigeln.
Das alles nimmt sich indessen harmlos aus im Vergleich zur mittelhochdeutschen Reimerzählung "Der túrney von dem czers" (das Nonnentournier) eines unbekannten Autors, die etwa aus dem Jahr 1430 stammt. Geht es in dem Melker Text um den Dialog zwischen einer Frau und ihrer Vagina, ist das "Nonntournier" quasi das männliche Pendant. Da redet seine Gespielin einem vertrottelten Ritter ein, Frauen würden einen Mann am meisten lieben, wenn er keinen "Zagel" (Penis) hätte. Daraufhin unterhält sich der Ritter mit seinem Penis über die weitere Vorgehensweise. Schließlich schneidet er ihn ab und versteckt ihn unter der Treppe eines Nonnenklosters. Allerdings schickt die Geliebte ihren Ritter in die Wüste, und zwar buchstäblich, wo er verdurstet.
Jetzt aber beginnt sein Penis, als habe er Nikolai Gogols viel spätere Erzählung "Die Nase" gelesen, ein Eigenleben und geht im Nonnenkloster um. Die Nonnen geraten in Streit, welche von ihnen den Penis mit auf ihr Zimmer nehmen darf. Das soll in einem Nonnentournier geklärt werden, in dessen Verlauf der Penis verschwindet. Zu guter Letzt beschließen die Nonnen, Stillschweigen über die Angelegenheit zu bewahren.
Seltsame Früchte
Dagegen nehmen sich sogar die erotischen Extravaganzen eines Boccaccio und eines Chaucer so harmlos aus, dass man sie als verprüdeter Mensch unserer Zeit ohne Errötungsgefahr lesen kann.
Vielleicht haben sich die wackeren Nonnen ja auch nur jene Sammlung von Psalmen aus dem 14. Jahrhundert angeschaut, die mit allerhand Randzeichnungen ausgestattet war - eine von ihnen zeigt eine Nonne, die von einem Strauch Penisse pflückt.
Wie war das mit den Rittern in schimmernden Rüstungen? - - Ferkel im Kettenhemd waren das! Die Drachen sind an der Schamesröte zugrunde gegangen. . .!