Eines muss man Norbert Gstrein bescheinigen: Er ist einer der mutigsten Schriftsteller der Gegenwart. Sein inzwischen wahrlich opulentes Werk ist von enormer thematischer und erzählerischer Vielfalt, vor allem aber wagt er sich regelmäßig an "heiße" Eisen, an denen man sich als Literat leicht die Finger verbrennen kann: den Holocaust ("Die englischen Jahre"), den Beruf des Kriegsberichterstatters ("Das Handwerk des Tötens"), den Nahostkonflikt ("In der freien Welt") oder die Flüchtlingskrise ("Die kommenden Jahre"). Gstrein aber schafft es jedes Mal, einen ganz neuen, unerwarteten Blick auf die jeweilige Thematik zu werfen - was nicht zuletzt mit dem Kern seines Schreibens zu tun hat: Statt um Wahrheit geht es ihm um das Mögliche, statt der Kausalität dominiert die Kontingenz.

Das gefährlichste Wort

Das gilt auch für seinen neuen Roman. "Was, wenn sich die Wahrheit nur allzuoft als schlechte Geschichte herausstellte, ja, als plattes Klischee? Solange die Sätze unverbunden nebeneinander standen, musste man sich hüten, Verbindungen herzustellen, man musste wissen, dass ‚weil‘ ein gefährliches Wort war, vielleicht das gefährlichste Wort überhaupt, zumal es nahelegte, man habe etwas verstanden, wo man vielleicht gar nichts verstanden hatte und nach einem ersten, grellen Lichtblitz der Erkenntnis in Wirklichkeit im Dunkeln tappte."

Franz sagt das, der Ich-Erzähler, und diese Beobachtung gilt für sämtliche Erzählstränge und Protagonisten dieses durchaus gewagten Buches. Denn es geht um Missbrauch, pädophile Neigungen und den mutmaßlichen Suizid einer Braut. An all dem ist Franz direkt oder indirekt beteiligt, aber wie so oft bei Gstrein sind am Ende mehr Fragen offen als geklärt.

Als junger Mann hilft Franz dem Vater in dessen Tiroler Gasthof beim Ausrichten zahlreicher Hochzeiten. Er mausert sich schon bald zu einer Art halboffiziellem Hochzeitsfotografen, der die Brautpaare an diesem besonderen Tag ablichtet - und schon damals wird ihm bewusst, dass diese Fotos "das bisschen Wahrheit und die ganze Lüge dieses schönsten Augenblicks des Lebens" zeigen.

Eines Tages stürzt eine Braut in der Hochzeitsnacht am nahegelegenen Schlossberg in den Tod. Die Polizei vermutet Suizid, doch es halten sich noch Jahre später Gerüchte, sie sei in den fraglichen Stunden nicht allein dort oben gewesen. Ein paar frühere Verehrer von ihr geraten ebenso in Verdacht wie Franz, aber die Ermittlungen verlaufen im Sande. Ein paar Wochen zuvor hatte sich Franz an gleicher Stelle jedoch tatsächlich schuldig gemacht. Mit einer jungen Geigerin auf einer der Hochzeiten war er dort hinaufgestiegen und hatte sie, obwohl sie drei Mal "Nicht!" zu ihm gesagt hatte, geküsst. Sie hatte erklärt, sie werde bald 17, doch in Wahrheit war sie erst 13 Jahre alt gewesen.