Ein Leben, sagte der als Komponist und Autor doppeltbegabte Carl Orff, ein Leben könne erst beschrieben werden, nachdem es vollendet ist. So wehrte Orff alle Versuche ab, ihn von der Notwendigkeit einer Biografie oder einer Autobiografie zu überzeugen. Erst in seinen letzten Lebensjahren ging er sie dann doch an. Aber er erzählte nicht sein Leben, sondern nahezu ausschließlich die Geschichte seiner Werke. Über Orffs Leben und seinen Blick auf sich selbst erfährt der Leser wenig bis gar nichts. So ist er also doch der Selbstbespiegelungsfalle entschlüpft.

Nachdenken über das Ich

Am morgigen Samstag findet weltweit der "We Love Memoirs Day" statt, ins Leben gerufen von den beiden Schriftstellern Victoria Twead und Alan Parks - und weit mehr als nur ein weiterer dieser kuriosen Feiertage, von denen die meisten ganz einfach Spaß machen und auch nicht mehr anstreben. Dieser Tag der Memoiren, den man getrost zum Tag der Autobiografie aufwerten darf, ist eine großartige Einladung, über die künstlerisch gefasste Selbsterkenntnis nachzudenken, über die schriftliche, naturgemäß, aber warum nicht gleich auch über die bildliche? Der Maler mit dem Selbstporträt - das ist eine Form der Innenschau, die durchaus hierher gehört.

Und welcher Maler hat sich schon mit all seinen Makeln abgebildet? Selbst Vincent van Gogh vermied es, sein selbstverstümmeltes Ohr zu zeigen. Manch ein Selfie für Facebook und Instagram ist kräftig nachbearbeitet. Angesichts dessen soll man darauf vertrauen, dass der schriftliche Bericht über das Selbst stimmt?

Wer seziert sich denn schon auf hunderten und aberhunderten Seiten, wie es Karl Ove Knausgård macht und damit die Leser entweder in Begeisterung versetzt oder tödlicher Langeweile überantwortet? Allenfalls der walisische Schriftsteller John Cowper Powys kommt an das heran, wenn er sich in seiner Autobiografie als einen Mann mit bizarren sexuellen Gelüsten und Anhänger eigenwilliger Rituale darstellt. Aber das sind absolute Ausnahmen. Die Regel ist ein geschöntes Bild, das die Untiefen des Lebens zumindest zu erklären versucht - so sie überhaupt als solche bewusst sind.

Beide Deutungsmöglichkeiten seien übrigens eingeräumt: Der bewusste Schwindel wie das Ergebnis eines falschen Selbstbildes. Johann Wolfgang von Goethe etwa betitelt seine Autobiografie gleich und wohl mit einem Schmunzeln "Dichtung und Wahrheit" und schreibt in der Einleitung von einem "Märchen". Das eigene Leben - ein Roman; der Roman - das eigene Leben.