Der studierte Soziologe Nicolas Mathieu ist ein Meister feiner Beobachtungen. - © Bertrand Jamot
Der studierte Soziologe Nicolas Mathieu ist ein Meister feiner Beobachtungen. - © Bertrand Jamot

Der Fußball ist ein pompöses Milliardengeschäft geworden, in dem inzwischen fast unvorstellbare, dem Normalsterblichen kaum mehr vermittelbare Ablösesummen und Gehälter gezahlt werden. Kritik an diesem Gebaren kontern die Profiteure dieses Spiels gerne mit dem Verweis auf die einende, gesellschaftliche Gräben überwindende Kraft des Kickens. Wo stünde Deutschland heute ohne sein Sommermärchen 2006? Hat nicht die kroatische Mannschaft bei der WM 2018, trotz Finalniederlage, einer gebeutelten Nation den Stolz wiedergegeben?

Moment der Einheit

Und war nicht der WM-Titel für Frankreich 1998 Ausdruck gelungener Integration gewesen: als der dunkelhäutige Lilian Thuram "Les Bleus" mit zwei Treffern ins Finale brachte und Zinédine Zidane, der Sohn algerischer Einwanderer, Brasilien im Endspiel fast im Alleingang besiegte? "In der 70. Minute schoss Thuram sein zweites Tor, und alle Zweifel waren vergessen. Das Volk stand mit einem Mal zusammen, die ganze Horde, es hatte alle Differenzen abgeschüttelt, es war eins. (. . .) Das ganze Land war im Delirium. Es war ein Moment der Einheit, sinnlich und bedeutungsschwer. Alles war egal geworden, die Vergangenheit, die Toten, die Schulden, alles weggewischt wie von Zauberhand. Frankreich stand zusammen, es herrschte grenzenlose Brüderlichkeit."

Der Sommer 1998, das Halbfinale der Fußball-WM in Frankreich, ist eine Art Kulminationspunkt in Nicolas Mathieus Roman "Wie später ihre Kinder". Sechs Jahre lang, von 1992 an, begleitet er verschiedene junge Leute - Anthony (aus schwierigen sozialen Verhältnissen), Stéphanie (aus dem örtlichen Bürgertum), Hacin (dessen Eltern aus Marokko stammen) sind die drei Hauptprotagonisten - in der nordfranzösischen Provinz beim Heranwachsen; im Zweijahrestakt werden wir Leser Zeugen ihres Weges in die Erwachsenenwelt, ihrer pubertären Irrungen und Wirrungen, ihrer Pläne für das künftige Leben, ihrer Wünsche und Sehnsüchte.

Prix Goncourt

Der 1978 im lothringischen Städtchen Épinal geborene Nicolas Mathieu hat zuvor erst einen Roman geschrieben: "Aux animaux la guerre" (2014) spielt in seiner Heimat, dem vom Niedergang gezeichneten Lothringen. Mit dem Nachfolgewerk "Wie später ihre Kinder", das im vorigen Jahr mit dem Prix Goncourt, dem renommiertesten französischen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde, hat der studierte Soziologe nicht nur einen Coming-of-Age-Roman geschrieben. Vielmehr präsentiert er hier einen großen Gesellschaftsroman über das Frankreich jenseits der Metropolen: über eine (fiktive) Kleinstadt Heillange, in der Arbeitslosigkeit und prekäre Lebensverhältnisse dominieren, in der die "Krise" einen "Platz in der Ordnung der Dinge eingenommen" hat, in der es nur den Wenigsten gelingt, aus den sozialen Verhältnissen der Eltern auszubrechen. Es ist ein Roman über das Frankreich, in dem die Proteste der Gelbwesten ihren Anfang nahmen.