Welche unfassbaren Bilder das sind! - Um die Welt windet sich die Midgardschlange. Der Wolf Fenrir bedroht die Götter. Nur ein Band aus dem Atem der Fische und dem Geräusch der Katzentritte bindet ihn. Am Ende wird er es zerreißen und Odin samt der Sonne verschlingen. Eine neue Welt wird entstehen, in der Baldur von den Toten aufersteht und gemeinsam mit seinem schuldig-unschuldigen Mörder, dem blinden Hödur, herrschen wird.
Zuvor ereignen sich die Geschichten der Götter und Helden. Schicksalsunterworfene sind sie wie die Götter und Helden der griechischen Antike. Doch von den nordischen Göttern und Helden geht ein dunkleres Leuchten aus. Denn Zeus ist ewig, doch die Gestalten der nordischen Mythen sind so sterblich wie die unvollkommene Welt, die untergehen wird, um neu zu entstehen - geläutert und glücklicher?
Speziell die Völuspá ("Weissagung der Seherin") ist eine Dichtung, die ihresgleichen nicht hat. Zwar ist die "Edda" eine der großen Dichtungen der Menschheit, doch sie ist kein Epos im herkömmlichen Sinn - und das macht sie umso moderner. Denn der "Edda" fehlt die durchgehende Handlung. Sie ist eine Sammlung von Verserzählungen, die Schlaglichter auf einzelne Stationen der Menschheitsgeschichte mit ihren exemplarischen Charakteren werfen. Aus ihnen muss der Leser oder besser noch: Zuhörer (denn die "Edda" ist die Aufzeichnung mündlicher Überlieferung) die Welt der altnordischen Götter und Helden zusammenfügen.
Die Lieder der "Edda" reichen weit in heidnische Frühzeit zurück. Aufgeschrieben wurde sie im Island des 13. Jahrhunderts in zwei voneinander teils stark abweichenden, teils wortidentischen Fassungen, deren eine anonym ist; die andere stammt von Snorri Sturluson und war gedacht als Lehrbuch für Dichter. Damit stellt sich die Frage, inwiefern die Christianisierung die heidnische Dichtung verwässert hat.
Das dürfte freilich nur marginal stattgefunden haben. Denn Snorri warnt ausdrücklich davor, an das in der "Edda" Tradierte zu glauben. Fast scheint es, als hielte er den Inhalt zu gefährlich für christliche Überzeugungen. Außerdem finden sich Parallelen im Ornament- und Figurenschmuck norwegischer Stabkirchen, wo das christliche Gotteshaus mit heidnischen Symbolen ausgestattet ist, die man in der "Edda" findet: Thorshammer, Fenrir und Midgardschlange führen den alten Glauben parallel zum neuen fort.
Heute ist die "Edda" in Skandinavien präsent und inspiriert Autoren wie etwa den Norweger Tor Åge Bringsværd, und sie dient US-amerikanischen Filmproduktionen und Comics als Ideenspenderin. Im deutschsprachigen Raum haben zahlreiche Autoren wie etwa Hebbel ("Die Nibelungen") und Komponisten wie Richard Wagner ("Der Ring des Nibelungen") in ihr ihre Stoffe gefunden. Dass die "Edda" hier lange Zeit dem Bewusstsein weitestgehend entschwunden war, hat mit der Begeisterung der Nationalsozialisten für die altnordische Götter- und Heldenwelt zu tun. Erst in jüngster Zeit ist es wieder möglich geworden, zwischen den Stoffen und ihrer missbräuchlichen Verwendung zu unterscheiden.